Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Fernsehhubschraubern einige der verstörendsten Bilder der Unruhen von 1992 aufgenommen und in alle Welt übertragen worden waren. Und diese Bilder schienen sich in den Köpfen vieler festgesetzt zu haben, wenn sie an Los Angeles dachten.
Aber Bosch merkte rasch, dass er die Gegend und den Getränkemarkt, zu dem sie unterwegs waren, von anderen Unruhen und aus einem anderen Grund kannte.
Fortune Liquors war bereits mit gelbem Tatort-Tape abgesperrt. Es hatte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger gebildet, auch wenn in dieser Gegend ein Mord nichts Besonderes war. So etwas hatten die Leute hier schon zur Genüge zu sehen bekommen. Bosch hielt in einer Gruppe von drei Streifenwagen und stieg aus. Nachdem er seine Aktentasche aus dem Kofferraum geholt hatte, schloss er den Wagen ab und ging auf die Absperrung zu.
Bosch und Ferras nannten dem Streifenpolizisten mit dem Tatort-Logbuch Namen und Dienstnummer, dann duckten sie sich unter dem Band durch. Als sie auf den Eingang des Getränkemarkts zugingen, zog Bosch ein Streichholzbriefchen aus seiner rechten Jackentasche. Es war alt und abgenutzt. Auf dem Deckel stand FORTUNE LIQUORS , und darunter war die Adresse des kleinen gelben Baus vor ihnen angegeben. Er klappte das Heftchen mit dem Daumen auf. Es fehlte nur ein Streichholz, und auf der Innenseite des Deckels stand der Spruch, der in keinem dieser Briefchen fehlte:
Glücklich der Mann, der
Zuflucht in sich selbst findet.
Bosch trug das Streichholzbriefchen schon über zehn Jahre mit sich herum. Nicht so sehr wegen des Spruchs – auch wenn er ihn zutreffend fand –, sondern wegen des fehlenden Streichholzes und woran es ihn erinnerte.
»Was ist, Harry?«, fragte Ferras.
Bosch merkte, dass er kurz stehen geblieben war.
»Nichts. Es ist nur, dass ich schon mal in dem Laden war.«
»Wann? Dienstlich?«
»Gewissermaßen. Ist aber schon lange her. Lass uns reingehen.«
Bosch trat an seinem Partner vorbei durch die offene Tür des Getränkemarkts.
Drinnen standen mehrere Streifenpolizisten und ein Sergeant. Der Laden war lang und schmal, mit dem Grundriss eines Shotgun-Hauses, und nur vier Regalreihen breit. Bosch konnte den Mittelgang zwischen den Regalen hinunter zu einem Quergang und einer offenen Hintertür sehen, die auf einen kleinen Parkplatz hinausführte. Die Kühlvitrinen mit den kalten Getränken verliefen entlang der linken Seitenwand und dann quer an der Rückwand des Ladens. Die Spirituosen befanden sich im rechten Gang, und der Mittelgang war den Weinen vorbehalten, roter rechts, weißer links.
Im hinteren Teil des Ladens sah Bosch zwei weitere Streifenpolizisten stehen, und er vermutete, dass sie dort hinten in einem Lager oder Büro den Zeugen festhielten. Er stellte seine Aktentasche neben der Tür auf den Boden, zog zwei Paar Gummihandschuhe aus seiner Anzugjacke und reichte eines Ferras. Sie streiften sich die Handschuhe über.
Der Sergeant merkte, dass die beiden Detectives eingetroffen waren. Er löste sich von seinen Männern und kam auf sie zu.
»Ray Lucas«, sagte er statt eines Grußes. »Das Opfer liegt hinter dem Ladentisch. Sein Name ist John Li, L-I geschrieben. Dürfte noch keine zwei Stunden her sein. Sieht nach einem Raubüberfall aus, bei dem der Täter keine Zeugen wollte. Viele von uns hier unten im Siebenundsiebzigsten kannten Mr. Li. Netter alter Mann.«
Lucas winkte Bosch und Ferras zum Ladentisch. Um nichts mit seinem Jackett zu berühren, hielt Bosch es eng an seinen Körper, als er sich hinter den Ladentisch zwängte. Dann ging er auf der kleinen Fläche dahinter wie ein Baseball-Catcher in die Hocke, um sich den Toten auf dem Fußboden genauer anzusehen. Ferras beugte sich wie ein Schiedsrichter über ihn.
Das Opfer war ein etwa siebzigjähriger Asiate. Er lag auf dem Rücken, und sein Blick war starr an die Decke gerichtet. Seine Lippen waren von den zusammengebissenen Zähnen zurückgezogen, es wirkte fast wie ein hämisches Grinsen. Auf Lippen, Wangen und Kinn des Toten war Blut, das er wahrscheinlich im Todeskampf ausgehustet hatte. Die Vorderseite seines Hemds war blutgetränkt, und Bosch konnte mindestens drei Einschusslöcher in seiner Brust erkennen. Das rechte Bein war am Knie angewinkelt und in einer unnatürlichen Stellung unter das andere Bein geknickt. Anscheinend war der alte Mann an der Stelle zusammengebrochen, an der er gestanden hatte, als ihn die tödlichen Schüsse getroffen hatten.
»Keine Hülsen, soweit wir gesehen haben«, berichtete
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