Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
schlief.
Meinen ersten Eindruck von diesem Mann würde ich wohl nie vergessen: groß, muskelbepackt, das Gesicht hager und eingefallen. Ein Gesicht, das einen spontan an einen frommen Asketen oder leicht durchgeknallten Künstler denken ließ. Das brünette Haar zeigte schon eisgraue Strähnen, der Bart, obschon stets sauber gestutzt, sah immer so aus, als brauche er noch ein paar Wochen, um ganz dicht zu sein. Zu Morgans hervorstechenden Eigenschaften gehörten der harte, feste Blick und ein Wesen, das große Ähnlichkeit mit dem tröstlichen, beruhigenden Charme eines Zahnarztbohrers aufwies.
Schlafend wirkte er – alt. Zerschlagen. Tiefe Sorgenfalten hatten sich zwischen den Brauen und an den Mundwinkeln eingegraben. Den Händen – große Pratzen mit leicht stumpfen Fingern – sah man das Alter am ehesten an. Ich wusste, dass Morgan mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hatte, nach Magierbegriffen also so langsam als erwachsen gelten konnte. Über beide Hände zogen sich Narben, die Graffiti der Gewalt. Ring- und kleiner Finger der rechten Hand lagen steif und etwas verkrümmt auf der Bettdecke, als hätte er sie sich irgendwann einmal heftig gebrochen und sie heilen lassen, ohne sie richten zu lassen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Haut darunter war so dunkel, dass es fast schon nach blauen Flecken aussah. Vielleicht litt ja auch Morgan unter Alpträumen.
Wenn er schlief, fiel es mir schwerer, mich vor ihm zu fürchten.
In der Küchennische erhob sich mein großer, grauer Hund Mouse von seinem angestammten Schlafplatz, um zu mir herüberzuschlendern. Neunzig Kilo stummer, kameradschaftlicher Gesellschaft. Mit ernster Miene musterte er Morgan auf dem Bett, ehe er zu mir hochsah.
„Tu mir einen Gefallen, ja?“, bat ich. „Bleib bei ihm und sorg dafür, dass er mit dem kaputten Bein nicht rumläuft. Das könnte ihn nämlich umbringen.“
Mouse rammte mir den riesengroßen Schädel in die Hüfte, gab ein leises Schnaufen von sich und tappte zum Bett hinüber, wo er sich fallen ließ, lang ausstreckte und sofort wieder einschlief.
Leise zog ich die Schafzimmertür hinter mir ran, ohne sie ganz zu schließen, ließ mich in den Sessel neben dem Kamin fallen, massierte mir die Schläfen und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Beim Weißen Rat der Magier handelte es sich um das Gremium, das den Gebrauch von Magie in der Welt überwachte – er setzte sich aus den mächtigsten Zauberkundigen aus aller Herren Länder zusammen. Die Mitgliedschaft im Weißen Rat ließ sich mit dem Erwerb des Schwarzgurtes in einer der asiatischen Kampfkünste vergleichen – der Beweis dafür, dass man sich selbst gut im Griff hatte und über Fertigkeiten verfügte, die von Gleichrangigen anerkannt wurden. Auf der Grundlage der sieben Gesetze der Magie wachte der Rat über den Umgang seiner Mitglieder mit ihren magischen Talenten.
Gnade Gott dem armen Zauberkundigen, der gegen eins dieser sieben Gesetze verstieß, denn dem schickte der Rat die Wächter auf den Hals, die für die Durchsetzung von Recht und Gesetz zu sorgen hatten. In der Regel bedeutete das die rücksichtslose Verfolgung des straffällig Gewordenen, ein rasches Verfahren und umgehenden Strafvollzug – falls der Missetäter nicht schon vorher umgekommen war, als er sich seiner Verhaftung widersetzte.
Das hörte sich hart an, und genauso war es auch. Nur hatte ich im Laufe der Jahre begreifen müssen, dass ein solches Vorgehen durchaus seine Berechtigung haben konnte. Wer sich schwarzer Magier bediente, vergiftete damit den eigenen Geist, die eigene Seele, das eigene Herz. Das geschah nicht sofort und nie auf einen Schlag, sondern ganz langsam, wie ein Tumor, der sich beim Wachsen Zeit ließ, der einen langsam von innen her auffraß, bis die Gier nach Macht letztlich jegliches Einfühlungsvermögen, jegliches Mitleid, das man anfangs vielleicht noch besessen haben mochte verzehrte. Bis ein Magier ganz dieser Versuchung erlag und zum Hexer wurde, waren Menschen ums Leben gekommen, oder es war ihnen noch Schlimmeres widerfahren. Mit Hexern mussten die Wächter einfach kurzen Prozess machen und bei ihrer Arbeit alle irgend erforderlichen Mittel einsetzen, das war ihre Pflicht.
Aber die Verfolgung Straffälliger war nicht die einzige Aufgabe der Wächter, sie fungierten zudem noch als Soldaten und Verteidiger des Weißen Rates. In den jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Vampiren hatten die Wächter, Männer und Frauen mit
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