Harry Potter und der Halbblutprinz
Ich werde das genauer erklären, wenn wir uns sehen.
Bitte schicke deine Antwort eulenwendend. In der Hoffnung, dich Freitag zu sehen,
verbleibe ich mit herzlichen Grüßen
dein Albus Dumbledore
Obwohl er dieses Schreiben bereits auswendig kannte, hatte Harry seit sieben Uhr an diesem Abend alle paar Minuten verstohlen daraufgeschaut, nachdem er am Zimmerfenster Stellung bezogen hatte, von wo aus man beide Enden des Ligusterwegs recht gut einsehen konnte. Er wusste, dass es sinnlos war, Dumbledores Worte immer wieder zu lesen. Harry hatte, wie gewünscht, sein »Ja« mit der Eule zurückgeschickt, die den Brief gebracht hatte, und nun konnte er nichts weiter tun als warten: Entweder kam Dumbledore oder er kam nicht.
Aber gepackt hatte Harry nicht. Es schien ihm einfach zu schön, um wahr zu sein, dass er nach nur zwei Wochen von der Gesellschaft der Dursleys befreit werden sollte. Er wurde das Gefühl nicht los, irgendetwas würde schiefgehen – vielleicht war seine Antwort auf Dumbledores Brief verloren gegangen; Dumbledore wurde womöglich am Kommen gehindert und konnte ihn nicht abholen; vielleicht stammte der Brief am Ende gar nicht von Dumbledore, sondern war eine List oder ein Scherz oder eine Falle. Harry hatte es nicht über sich gebracht, schon alles einzupacken, um dann enttäuscht zu werden und wieder auspacken zu müssen. Das Einzige, was er für eine möglicherweise bevorstehende Reise unternommen hatte, war, seine Schneeeule Hedwig sicher in ihren Käfig zu sperren.
Der Minutenzeiger des Weckers erreichte die Zwölf, und genau in diesem Moment erlosch draußen vor dem Fenster die Straßenlaterne.
Harry erwachte, als wäre die plötzliche Dunkelheit ein Weckerläuten. Hastig rückte er seine Brille gerade und löste seine Wange von der Scheibe, drückte nun die Nase ans Fenster und spähte hinunter auf den Bürgersteig. Eine große Gestalt mit einem langen, wehenden Umhang kam den Gartenweg entlang.
Harry sprang auf, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, stieß seinen Stuhl um und fing an, alles in seiner Reichweite vom Boden zu schnappen und in den Koffer zu schleudern. Gerade als er eine Garnitur Umhänge, zwei Zauberbücher und eine Packung Chips in hohem Bogen durchs Zimmer warf, läutete es an der Haustür.
Unten im Wohnzimmer rief sein Onkel Vernon: »Wer zum Teufel ist das, so spät in der Nacht?«
Harry erstarrte, ein Messingteleskop in der einen und ein Paar Turnschuhe in der anderen Hand. Er hatte völlig vergessen, den Dursleys zu sagen, dass Dumbledore vielleicht kommen würde. Panisch und zugleich dem Lachen nahe, kletterte er über den Koffer und riss gerade noch rechtzeitig die Tür auf, um eine tiefe Stimme sagen zu hören: »Guten Abend. Sie müssen Mr Dursley sein. Ich bin sicher, Harry hat Ihnen erzählt, dass ich ihn abholen komme?«
Harry sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, blieb jedoch, kurz bevor er unten war, schlagartig stehen, denn lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, möglichst außerhalb der Reichweite seines Onkels zu bleiben. Dort im Eingang stand ein großer, dünner Mann mit hüftlangem silbernem Haar und Bart. Er hatte eine Halbmondbrille auf seiner Hakennase und trug einen langen schwarzen Reiseumhang und einen Spitzhut. Vernon Dursley, dessen Schnurrbart zwar schwarz, aber genauso buschig war wie der von Dumbledore und der einen braunroten Morgenmantel anhatte, starrte den Besucher an, als würde er seinen winzigen Augen nicht trauen.
»Wenn ich Ihre ungläubig verdutzte Miene richtig deute, hat Harry Ihnen nicht angekündigt, dass ich komme«, sagte Dumbledore freundlich. »Aber lassen Sie uns doch einfach annehmen, dass Sie mich herzlich in Ihr Haus eingeladen haben. In diesen schweren Zeiten ist es unklug, allzu lange auf Türstufen zu verweilen.«
Er trat flink über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
»Es ist lange her, dass ich zum letzten Mal hier war«, sagte Dumbledore und sah über seine Hakennase auf Onkel Vernon hinab. »Ich muss sagen, Ihr Agapanthus gedeiht prächtig.«
Vernon Dursley sagte überhaupt nichts. Harry zweifelte nicht daran, dass er die Sprache wiederfinden würde, und zwar bald – die Ader, die an der Schläfe seines Onkels pulsierte, erreichte gerade den Gefahrenpunkt –, doch etwas an Dumbledore schien ihm zeitweilig den Atem geraubt zu haben. Vielleicht war es die Tatsache, dass seine Erscheinung so offenkundig die eines Zauberers war, aber es konnte auch sein, dass sogar
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