Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
Hermine, und es waren ihre Arme, die sich um ihn schlangen, ihre unverständlichen Rufe, die ihn betäubten. Dann waren Ginny, Neville und Luna da, und dann alle Weasleys und Hagrid, und Kingsley und McGonagall und Flitwick und Sprout, und Harry verstand kein Wort von dem, was alle schrien, noch wusste er, wessen Hände ihn packten, an ihm zogen, versuchten, irgendeinen Teil von ihm an sich zu drücken, Hunderte von ihnen drängten herbei, alle wollten unbedingt den Jungen, der überlebte, berühren, der dafür gesorgt hatte, dass es endlich vorbei war –
Die Sonne ging stetig über Hogwarts auf, und die Große Halle glühte vor Leben und Licht. Harry war unerlässlich bei den gemischten Gefühlsausbrüchen rundum, bei Jubel und Trauer, Kummer und Triumph. Sie wollten ihn hier bei sich haben, ihren Anführer und ihre Symbolfigur, ihren Retter und ihren Lotsen, und dass er nicht geschlafen hatte, dass er sich nach der Gesellschaft nur weniger von ihnen sehnte, schien niemandem in den Sinn zu kommen. Er musste zu den Trauernden sprechen, ihre Hände drücken, ihre Tränen bezeugen, ihren Dank entgegennehmen, sich die Neuigkeiten anhören, die nun, da der Morgen verging, aus allen Richtungen zu ihnen drangen, wonach diejenigen, die im ganzen Land unter dem Imperius-Fluch gestanden hatten, wieder zu sich gekommen waren, wonach Todesser flohen oder aber gefangen wurden, wonach die Unschuldigen von Askaban gerade in diesem Moment freigelassen wurden und Kingsley Shacklebolt zum einstweiligen Zaubereiminister ernannt worden war …
Sie brachten Voldemorts Leiche weg und legten sie in eine Kammer neben der Halle, abseits der Leichen von Fred, Tonks, Lupin, Colin Creevey und fünfzig anderen, die im Kampf gegen ihn gestorben waren.
McGonagall hatte die Haustische wieder aufgestellt, aber niemand saß mehr dort, wo er seinem Haus nach hingehörte: Alle waren bunt durcheinandergewürfelt, Lehrer und Schüler, Gespenster und Eltern, Zentauren und Hauselfen, und Firenze lag in einer Ecke, um sich zu erholen, und als Grawp durch ein zerschmettertes Fenster hereinlugte, warfen sie ihm Essen in seinen lachenden Mund. Nach einer Weile fand sich Harry unversehens, erschöpft und ausgelaugt, auf einer Bank neben Luna wieder.
»Wenn ich du wäre, würde ich ein bisschen Ruhe und Frieden haben wollen«, sagte sie.
»Nur zu gerne«, erwiderte er.
»Ich lenk sie alle ab«, sagte sie. »Nimm deinen Tarnumhang.«
Und ehe er ein Wort sagen konnte, hatte sie aus dem Fenster gedeutet und gerufen: »Oooh, schaut mal, ein Schlibbriger Summlinger!« Alle, die es hörten, drehten sich um, und Harry ließ den Tarnumhang über sich gleiten und stand auf.
Nun konnte er ungestört durch die Halle gehen. Zwei Tische weiter entdeckte er Ginny; sie saß da, mit dem Kopf an der Schulter ihrer Mutter: Sie würden später noch Zeit haben zu reden, Stunden und Tage und vielleicht Jahre Zeit. Er sah Neville, der das Schwert von Gryffindor neben seinem Teller liegen hatte, während er aß, inmitten einer Traube von glühenden Bewunderern. Er schritt den Gang zwischen den Tischen entlang, und sein Blick fiel auf die drei Malfoys, die sich eng aneinander drängten, als wären sie nicht sicher, ob sie hier erwünscht waren, aber niemand achtete auf sie. Wo immer er hinschaute, sah er wiedervereinte Familien, und endlich erblickte er die beiden, deren Gesellschaft er am meisten ersehnte.
»Ich bin’s«, murmelte er und kauerte sich zwischen sie. »Kommt ihr mit?«
Sie standen sofort auf, und gemeinsam verließen er, Ron und Hermine die Große Halle. An der Marmortreppe fehlten große Stücke, Teile des Geländers waren weg, und als sie hinaufstiegen, stießen sie alle paar Schritte auf Trümmer und Blutflecken.
Irgendwo in der Ferne konnten sie Peeves durch die Korridore sausen und ein selbst verfasstes Siegeslied singen hören:
Wir ham sie vermöbelt, Klein Potter, der war’s,
Und Voldy, der modert, und wir ham jetzt Spaß!
»Da wird einem erst richtig klar, was für eine große Tragödie das war, oder?«, sagte Ron und drückte eine Tür auf, um Harry und Hermine durchzulassen.
Das Glück würde kommen, dachte Harry, aber im Augenblick war es von Erschöpfung überdeckt, und der Schmerz über den Verlust von Fred und Lupin und Tonks versetzte ihm alle paar Schritte einen Stich wie eine körperliche Wunde. Vor allem andern verspürte er ungeheure Erleichterung und ein großes Bedürfnis nach Schlaf. Doch zunächst schuldete er Ron und Hermine
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