Harte Schule
ein Witz. Nichts über den Todeszeitpunkt, nichts über die Tatwaffe. Ich lasse mich nicht gern verarschen.«
»Ich auch nicht.« Christophs Augen hatten die Farbe von Beton. Was er außer einem rhythmischen Aufreihen von Scheinwerfern auf der Pragkreuzung draußen sah, blieb mir dunkel. Endlich blickte er mich an. »Marquardt wurde gestern Nacht getötet, schätzungsweise zwischen halb neun und halb zwölf.«
»Also definitiv kein Unfall auf eisglattem Schulhof.«
»Er ist zwar mit dem Hinterkopf auf den Blumenkübel gefallen, aber die postmortalen Klugscheißer haben außerdem einen winzigen Einstich in der Brust gefunden. Jemand hat Marquardt einen langen nadelförmigen Gegenstand ins Herz gestoßen.«
»Eine Haarnadel? Wie altmodisch.«
»Nein. Eine Spritze, aber eine mit einem Durchmesser von eins Komma fünf Millimeter. Die Länge ist nicht genau feststellbar, weil es am Herzen explosionsartige Zerstörungen gab, sagen die Leichenfledderer. Es ist kaum Blut aus der Wunde getreten. Der Stich erfolgte durch Pullover, Hemd und Unterhemd hindurch. Es musste zunächst so aussehen, als sei Marquardt ausgerutscht. Allerdings mit runtergelassenen Hosen.«
»Oh!«
»Wenn du mich fragst: Es sieht nach einer Beziehungstat aus.«
»Und warum dann diese Hektik bei höheren Stellen?«
Christoph hob die breiten Schultern. »Ich bin nur der kleine Fahnder, der die Puzzlestücke sammelt.«
»Und was sagen die noch?«
»Zum Beispiel, dass eine Unmenge Leute auf dem Schulhof die dünne Eisschicht zertrampelt haben, die uns sonst allerlei hätte erzählen können. Dem Hausmeister und der Turnlehrerin kann man nicht übelnehmen, dass sie Spuren hinterließen, aber der Vandalismus der Schutzpolizei ist unbegreiflich.«
»Gab es einen Kampf?«
»Die Leiche weist zumindest keine Blutergüsse oder Hautabschürfungen auf. Allerdings kann man nicht aus schließen, dass Marquardt vielleicht ein paarmal gestoßen wurde. Er war dick angezogen. Übrigens deutet vieles darauf hin, dass er sich die Hose selber runtergezogen hat.«
»Seine Notdurft hätte er doch wohl besser auf dem Bubenklo verrichtet.«
»Es ist gar nicht so selten, dass Leute ihrem Unmut gegen Personen oder Institutionen Luft machen, indem sie prominente Plätze verschmutzen.«
»Seine Genitalien sind unversehrt?«
Christoph bekam ein Gesicht ähnlich dem, das Frauen machen, wenn sie dem Partner das Wesen der Menstruation erläutern. »Nun, Marquardt hatte da eine kleine Anomalie. Sein Penis ist verkrümmt wie ein Haken. So was kann man im Prinzip operativ korrigieren lassen, aber oft trauen sich die Männer nicht, damit zum Arzt zu gehen. Sie reden mit niemandem darüber, verzichten oft ihr ganzes Leben lang auf Sexualität oder weichen auf abnorme Praktiken aus.«
»Was hat Marquardt eigentlich gestern Abend noch in der Schule gemacht?«
»Er hatte …«
Die Tür platzte auf, Christoph duckte sich, und EKHK Beckstein trat ein. »Sie schon wieder!«
»Ich tue auch nur meinen Job«, sagte ich. »Leider ist Herr Weininger wenig kooperativ.«
Beckstein stemmte die Beine in den Boden. »Herr äh …?«
»Nerz.«
»Wer hat Ihnen eigentlich die Anweisung gegeben, bei uns rumzuschnüffeln? Der Polizeipräsident mit Si cherheit nicht. Und der Psychologe aus dem Haus auch nicht. Wer also dann?«
Christoph schnaufte. »Dr. Weißenfels ist wirklich für jeden Schwachsinn gut.«
»Soooooo! Weißenfels also!«
Ein Hauch Schnee weißte die Fußwege. Über den Hallschlag fuhr ich nach Münster hinab. Teerschwarze Nacht stieg aus dem Neckar auf.
Das Haupttor des PHG war verschlossen. Ein Pfad führte zwischen Haupthaus und einem verwilderten Grundstück zur Bahnlinie. Er wurde von zwei Funzeln erleuchtet. Die dritte war kaputt. Der Raubtierzaun zum hinteren Schulhof war gut zwei Meter hoch und hatte ein Wärtertörchen. Ein solches Törchen befand sich auch am vergitterten Bolzplatz hinter der Turnhalle. Beide waren abgeschlossen. Ich turnte hinüber und sprang in den Schulhof. Am mittleren der drei sechseckigen Betonkü bel war Marquardt gestorben. Morgen ödeten sich hier wie der Schulkinder an.
Plötzlich flammten Lichter im Verbindungsflügel zwischen Haupthaus und Turnhalle auf. Ich warf mich in den Schatten eines Stützpfeilers der Turnhalle. Das Licht flutete zwei Räume im unteren Stockwerk. Eine ältliche Frau mit dem Dutt der praktizierenden Christin am Hinterkopf trat von einem Hörsaal, in dem die Stuhlreihen anstiegen, in die Physiksammlung
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