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Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Wasser fällt.«
    »Aber die Feldstärke?« Hatte ich eben noch gemeint, das Prinzip verstanden zu haben, so hatte das Wasser alles wieder weggespült.
    Die Alte lächelte listig und wühlte aus einer Schublade ein Glühlämpchen mit Verbindungskabeln. »Passen Sie auf. Ich schalte die Glühlampe zwischen die Platten. Es leuchtet. Ich ziehe die Platten auseinander …«
    Das Lämpchen glühte mächtig auf. »Hübsch.«
    »Doch die Ablenkung«, fuhr sie fort und ließ eine kleine Kugel an einem Fädchen zwischen die Platten baumeln, »die eine negativ geladene Kugel in Richtung der positiv geladenen Platte erfährt, bleibt immer gleich, egal, wie weit oder eng die Platten stehen. Die Feldstärke bleibt demnach konstant.«
    »Aha.«
    »Vorsicht!«
    Zu spät. Ein mordsmäßiger Schlag haute mich unter den Tisch. Ich verlor ein paar Sekunden.
    Neben mir kniete die Alte und gab mir Klapse auf die Backe. »Und ich sag’s den jungen Kollegen immer wieder: Lasst nie die Schüler nach vorne kommen, wenn ihr mit dem Plattenkondensator experimentiert. Da liegen schnell mal siebentausend Volt an. Unglaublich, wie wenig die Leute wissen, wo sie ihre Hände haben. Zum Glück sind Sie Rechtshänderin. Wäre der Strom durch die Herzseite geflossen, wären Sie jetzt tot. Da reichen schon ein paar Volt.«
    Schneider half mir auf einen Stuhl. Meine Knie zitter ten ernstlich. Sie diagnostizierte Schock, legte meine Fü ße hoch und redete allerlei auf mich ein: »Auch die Dauer, die der Strom durch den Körper fließt, entscheidet über Leben und Tod. Die Hitze zerstört die Muskelzellen, die Eiweißzerfallsprodukte legen noch Tage später die Nieren lahm. Dass manche von der Stromquelle nicht mehr loskommen, liegt daran, dass der Strom die Muskeln kontrahiert und dass die Handschließer stärker sind als die -offner.«
    Ich entdeckte die Strommarke auf der Kuppe meines rechten Mittelfingers, eine winzige Delle in der Haut, umgeben von einem kleinen weißen Wall aus geschmolzenen und verkürzten Hautfasern. Ich konnte mich jedoch beim besten Willen nicht erinnern, wie ich eigentlich in Kontakt mit dem Kondensator gekommen war. Schneider holte ihren Wintermantel aus einem Schrank und griff mir unter den Arm. »Geht’s?«
    Ich ignorierte das Muskelflimmern im rechten Arm. Durch den Physiksaal gelangten wir in den Gang und von dort durch die Glastür in den hinteren Schulhof. Die kalte Luft schüttelte mich aus dem Tran. Schneider schlüsselte uns durchs Törchen hinaus auf den Pfad. Eine trockene kleine Hand hibbelte in meiner. Die tief liegenden Augen huschten um den direkten Blick herum.
    »Sie müssen mal auf einen Tee zu mir kommen«, kicherte sie, »falls Sie vor einer einsamen alten Schachtel keine Angst haben. Passen Sie auf sich auf. Sie stehen noch unter Schock.«
    Sie ging fort in Richtung Bahndamm, klein und schief. Hatte sie wirklich versucht, mich umzubringen? Welche Ehre für eine Kröte wie mich.
    Münster hatte sich unterhalb der Schule den schwäbischen Dorfcharakter bewahrt. Häuser und Gassen hielten sich an keine Linie, wie ein Kindergebiss vor der Zahnregulierung. Die Giebel spitzten ins nahtlos abschließende Dach. Wer dahinter lebte, gönnte sich nur ein einziges erleuchtetes Zimmer hinter runtergelassenen Rollläden. Garagen hatte man früher nicht gebaut. Heute fehlte der Platz. Entlang der Bahnlinie hatten sich Pfennigmarkt und Drogeriemarkt angesiedelt. Vor einer Eckkneipe lungerten drei Buben in Springerstiefeln und Blousons. Ich zitterte noch und lechzte nach etwas Wärmendem. Drinnen saßen am Fenster, das mit einer gelben Butzenscheibenfolie beklebt war, ein halbes Dutzend Grufties vor Gläsern mit Diesel. Schwarzer Samt, weiße Rüschen, schwarze Röcke, schwarze Lippen, weiße Gesichter, silberne Kreuze an Ohren und Hälsen. Unter den Tischen scharrten die Pikes, die tütenspitzen Schuhe der goti schen Denkungsart. Sie waren damit beschäftigt, Bierdeckel von der Kante hochzuschnippen und mit derselben Hand danach zu schnappen.
    Der haarlose Wirt war hinter der Theke in etwas Zeitungsähnlichem mit vielen nackten Weibern versunken. Ich verlangte Kaffee. Er zog die Hausjacke über den Hinterschinken und angelte die Kanne von der Wärmeplatte.
    »Frisch, wenn’s geht«, sagte ich.
    »Ebbes andres gibt’s net.«
    Die Goten hatten die Bierdeckeljagd unterbrochen. Unter ihnen befand sich ein Punk, dessen blauer Haarkamm schon etwas welkte.
    »Cool!«, entfuhr es einem Mädchen. Mit leuchtenden Augen vermaß

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