Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
und wandelte zwischen Rolltischen mit Versuchsanordnungen herum. Ich huschte näher. Die Alte hantierte hexenhaft gebeugt mit einem Bunsenbrenner hinter einem verbeulten Bandgenerator.
    Ich trat ans Fenster. Sie blickte hoch, griff nach einer Coulomb’schen Kugel, ließ die untaugliche Waffe dann aber liegen, strich das graue Kleid glatt und öffnete das Fenster. Ich zeigte meinen Presseausweis. »Es ist lange her, dass ich all diese physikalischen Folterinstrumente gesehen habe.«
    Sie strich das dünne Haupthaar zum Dutt zurück. »Da draußen können Sie nicht bleiben. Wenn Sie der Hausmeister erwischt …« Sie kicherte. Ich stieg ein. Sie musterte mich flink. »Gott, Sie sehen ja aus wie ein Zombie. Wer hat Ihr Gesicht so verwüstet?«
    »Ein Autounfall.«
    »Hm. Übrigens, ich heiße Schneider. Möchten Sie ei nen Tee?«
    Das Wasser sprudelte auf einem Dreifuß über dem Bunsenbrenner. Die Alte holte zwei Bechergläser aus dem Schrank und hängte Teebeutel hinein. Ihre Nase war spitz und weiß, die Augen lagen tief in den Höhlen unter einer breiten und hohen Stirn.
    »Störe ich?«
    Sie kicherte. »Natürlich stören Sie, mein Kind. Außerdem haben Sie mir einen jesusmäßigen Schrecken eingejagt. Gestern wurde da draußen ein Kollege ermordet. Aber deswegen schleichen Sie hier vermutlich herum.« Sie goss das sprudelnde Wasser über die Teebeutel. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Ich habe nichts gesehen. Ich habe um acht das Licht ausgemacht. Da war Marquardt noch drüben mit seiner AG zugange. Ich bin über den Schulhof zum Törchen. Ich habe einen Schlüssel, damit ich den Hausmeister nicht immer bitten muss. Ich wohne da oben an der Bahnlinie. Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben.«
    Sie stellte Zucker in einem Mörserschälchen auf den Tisch. Das Leben hatte ihre Lippen auf einen Strich reduziert, aber ein subversiver Optimismus verbog sie zu einem Lächeln.
    »Was war Marquardt für einer?«
    »Ich würde sagen, das kann Ihnen genauso egal sein wie mir. Abgesehen davon, ich kannte ihn kaum. Ich komme selten rauf ins Lehrerzimmer. Physikalische Versuche wollen gut vorbereitet sein, sonst tanzt Ihnen die Klasse auf der Nase rum.«
    Auf einem der Rolltische war der Versuch mit dem Wagen aufgebaut. Das Wägelchen auf der waagrechten Schiene war über einen Strick und eine Rolle mit einem Gewicht verbunden, das lotrecht hinunterhing.
    Schneider kicherte. »Natürlich funktioniert kein Versuch wirklich. Zwar müssen die Axiome durch Versuche gesichert sein und demzufolge wiederholbar. Aber das ist Theorie. Der Reibungsverlust bei dem Wagen ist viel zu groß, und meistens drücke ich zu spät auf die Stoppuhr. Eigentlich messe ich gar nicht mehr. Ich weiß, dass der Wagen in der doppelten Zeit den vierfachen Weg und in der dreifachen Zeit den neunfachen Weg zurücklegt. Die Strecke ist die halbe Beschleunigung mal Zeit im Quadrat. Wir ersetzen a gleich Beschleunigung durch g gleich Erdbeschleunigung …«
    »Neun Komma acht eins Meter pro Quadratsekunde.«
    »Schau an! Sie haben aufgepasst in der Schule.«
    »Nee. Die Zahl steht auf dem Aufkleber hier unter der Schiene.«
    Schneider lachte. »Es soll ja Physikkollegen geben, die sich das nicht merken können.« Sie wischte ein nicht vorhandenes Stäubchen vom Tisch. »Aber Sie interessieren sich wohl mehr für Deutschlehrer. Nun denn, er war engagiert, wie man so sagt. Einmal fragte er mich was wegen einer Astrologie-AG. Er hatte die vage Vorstellung, Astrologie hinge doch irgendwie mit Astronomie zusammen.«
    Sie stellte das Zuckerschälchen wieder in den Schrank. Der Tee war ungenießbar bitter.
    »Er war unruhig«, sagte sie vom Schrank her, »ein Mensch, der immer auf der Suche ist. Zuletzt hat er eine Esoterik-AG geleitet.«
    »Hatte er Feinde?«
    »Du meine Güte, jede Antwort darauf wäre eine Beschuldigung. Vorsicht! Kommen Sie dem Plattenkondensator nicht zu nahe. Da kann immer Spannung anliegen.«
    Der Kondensator war mit dem verbeulten Bandgenerator verbunden.
    »Der Generator dient dazu«, erklärte Schneider, »den Schülern zu veranschaulichen, dass man Arbeit verrichtet, um die Elektronen von einer Platte auf die andere zu bringen. Mittelstufe. In der Oberstufe geht es nun darum zu zeigen, dass die Feldstärke im Kondensator konstant bleibt, auch wenn man die Platten auseinanderzieht, dass die Spannung aber zunimmt. Das ist genauso, wie wenn Wasser aus großer Höhe herabstürzt. Die Menge bleibt dieselbe, aber es klatscht mehr, je tiefer

Weitere Kostenlose Bücher