Harter Schnitt
vorstellen. Sie war unter dem Schirm. Egal, was passierte, es gab im ganzen Team keinen Mann, der für sie nicht sein Leben riskiert hätte. Der Familie kehrt man nicht den Rücken zu.«
Will hatte immer geglaubt, dass Evelyn auf beiden Seiten des Gesetzes geschützt worden war. Es jetzt bestätigt zu hören, das war kein Trost.
Amanda sagte zu dem Mann: » Du weißt, dass Chuck Finn und Demarcus Alexander bereits draußen sind?«
Er nickte. » Chuck blieb hier im Süden. Demarcus ging nach L. A. , wo die Familie seiner Mama wohnt.«
Amanda wusste die Antwort sicher bereits, aber sie fragte trotzdem: » Bleiben die beiden sauber?«
» Chuck kommt ohne Herrengedeck nicht aus.« Damit meinte er, dass er sich zuerst Heroin spritzte und dann Crack rauchte. » Der Bruder landet wieder im Knast, wenn er nicht vorher auf der Straße stirbt.«
» Hat er irgendjemanden verärgert?«
» Davon hab ich nichts gehört. Chuck ist ein Junkie durch und durch. Der würde für ein bisschen Stoff seine Mutter verkaufen.«
» Und Demarcus?«
» Schätze, der ist so sauber, wie man nur sein kann mit einer Gefängnisstrafe auf dem Buckel.«
» Ich habe gehört, er arbeitet daran, eine Elektrikerlizenz zu bekommen.«
» Schön für ihn.« Boyd schien es wirklich zu freuen. » Hast du schon mit Hump und Hop gesprochen?« Er meinte Ben Humphrey und Adam Hopkins, ehemalige Kollegen, die im Augenblick im Valdosta State Prison einsaßen.
Amanda wählte ihre Worte mit Bedacht. » Sollte ich mit ihnen reden?«
» Einen Versuch wäre es wert, aber ich bezweifle, dass sie noch auf dem Laufenden sind. Sie haben noch vier Jahre vor sich. Sie bleiben sauber, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dir gegenüber sehr mitteilsam sind, schließlich warst du ja an ihrem gegenwärtigen Knastaufenthalt alles andere als unschuldig.« Er zuckte die Achseln. » Ich habe nichts zu verlieren.«
» Ich habe gehört, du hast deinen Termin bekommen.«
» Erster September.« Es wurde still im Raum, als wäre alle Luft aus ihm herausgesaugt worden. Boyd räusperte sich. Sein Adamsapfel hüpfte. » Gibt einem einen neuen Blickwinkel auf alles.«
Amanda beugte sich vor. » Auf was, zum Beispiel?«
» Zum Beispiel, dass man die Kinder nicht aufwachsen sieht. Nie eine Chance hat, Enkel im Arm zu halten.« Er schluckte wieder. » Ich war sehr gerne auf der Straße, um die bösen Jungs zu jagen. Unlängst hatte ich einen Traum. Wir saßen im Razzia-Van. Evelyn ließ diesen blöden Song laufen– kannst du dich noch erinnern?«
» ›Would I lie to you‹?«
» Annie Lennox. Eiskalt. Beim Aufwachen hatte ich den Song noch immer im Ohr. Hämmerte in meinem Kopf, obwohl ich keine Musik mehr gehört habe seit– wann?– vier Jahren?« Er schüttelte traurig den Kopf. » Es ist wie eine Droge. Man tritt diese Tür ein, holt diesen ganzen Abschaum heraus, und am nächsten Morgen wacht man auf und macht es wieder.« Er breitete die Hände so weit aus, wie es die Fesseln erlaubten. » Sie haben uns für diese Scheiße bezahlt? Also komm. Eigentlich hätten wir ihnen was zahlen müssen.«
Sie nickte, aber Will dachte daran, dass sie unzählige andere Wege gefunden hatten, sich selbst zu bezahlen.
Boyd sagte: » Eigentlich war ich ja mal ein guter Mann. Aber dieser Laden hier?« Er schaute sich um. » Der macht einem die Seele schwarz.«
» Wenn du sauber geblieben wärst, wärst du jetzt schon draußen.«
Er starrte mit leerem Blick die Wand hinter ihr an. » Sie haben es auf Band– wie ich mir diese Kerle vorgeknöpft habe.« In dem Lächeln, das jetzt auf seinen Lippen lag, war kein Humor, nur Dunkelheit und Verlust. » In meinem Kopf hatte sich das ganz anders abgespielt, aber sie haben die Bänder bei meinem Prozess gezeigt. Bänder lügen nicht, oder?«
» Richtig.«
Er musste sich zweimal räuspern, bevor er weiterreden konnte. » Da war dieser Kerl, der hat mit den Fäusten auf den Wachmann eingeprügelt, ihm ein Handtuch um den Hals gewickelt. Die Augen glühen wie bei etwas aus einer Freak-Show. Er schreit wie ein gottverdammtes Tier. Hat mich über meine Zeit auf der Straße nachdenken lassen. All die bösen Jungs, die ich fertiggemacht habe, die Männer, die ich für Monster hielt, und dann schaue ich mir diesen Kerl auf dem Band an, dieses Monster, das den Wachmann fertigmacht, und merke, das bin ja ich.« Seine Stimme war fast nur noch ein Flüstern. » Das war ich, wie ich einen Mann verprügle. Das bin ich, wie ich zwei Männer
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