Harter Schnitt
Feinde? Wonach hatten die Männer gesucht?
Faith war immer noch genauso ahnungslos wie zu Beginn des Verhörs.
Sie stellte den Mini am Bordstein vor ihrem Haus ab. Drinnen brannten alle Lichter, was sie noch nie in ihrem ganzen Leben zugelassen hatte. Das Haus sah aus wie eine Weihnachtsdekoration. Eine sehr teure Weihnachtsdekoration. In der Auffahrt standen vier Autos. Sie erkannte Jeremys alten Impala, den er Evelyn abgekauft hatte, als sie sich den Malibu besorgt hatte, aber die beiden Transporter und die Corvette waren ihr unbekannt.
» Sch…«, beruhigte sie Emma, die jetzt, da das Auto stand, unruhig wurde. Gegen den gesunden Menschenverstand und jedes Gesetz hatte Faith Emma neben sich auf den Vordersitz gelegt. Die Fahrt von Mrs. Levy hierher dauerte nur ein paar Minuten, aber es war weniger Faulheit, sondern ihr Wunsch, ihr Kind dicht bei sich zu haben. Sie nahm Emma hoch und drückte sie an sich. Das Herz des Babys pochte tröstend an ihrer Brust. Ihre Atmung war sanft und vertraut.
Faith wollte ihre Mutter. Sie wollte den Kopf an Evelyns Schulter lehnen und ihre starken Hände ihren Rücken streicheln spüren, während sie ihr zuflüsterte, dass alles wieder gut würde. Sie wollte zusehen, wie ihre Mutter Jeremy wegen seiner langen Haare neckte und Emma auf ihrem Knie reiten ließ. Vor allem aber wollte sie mit ihrer Mutter darüber reden, wie furchtbar ihr Tag gewesen war, sie um Rat fragen, ob sie dem Gewerkschaftsvertreter, der ihr sagte, sie brauche keinen Anwalt, trauen konnte oder nicht, oder ob sie besser auf den Anwalt hören sollte, der ihr sagte, der Gewerkschaftsvertreter habe zu enge Bande mit der Polizei von Atlanta.
» O Gott«, hauchte sie Emma in den Nacken. Faith brauchte ihre Mutter.
Tränen traten ihr in die Augen, und diesmal versuchte sie nicht, sie zurückzuhalten. Zum ersten Mal, seit sie vor Stunden das Haus ihrer Mutter betreten hatte, war sie nun allein. Sie wollte einfach zusammenbrechen. Sie hatte es dringend nötig zusammenzubrechen. Aber auch Jeremy brauchte seine Mutter. Er brauchte eine starke Faith. Ihr Sohn musste ihr glauben können, wenn sie sagte, sie würde alles tun, was nötig sei, um seine Großmutter wieder heil zurückzuholen.
Nach den Autos zu urteilen, waren mindestens drei Polizisten drinnen bei ihrem Sohn. Jeremy hatte geweint, als sie ihn vom Revier aus anrief– verwirrt, besorgt, voller Angst um seine Großmutter und auch seine Mutter. Amandas Warnung fiel Faith wieder ein. In Mrs. Levys Wohnzimmer war Faith von Amandas Umarmung überrascht gewesen, aber nicht von ihren Worten, die sie als Warnung geflüstert hatte: » Du hast zwei Minuten, um dich zusammenzureißen. Wenn diese Männer dich weinen sehen, bist du für den Rest deiner Karriere für sie nichts anderes als eine nutzlose Frau.«
Manchmal dachte Faith, Amanda schlüge eine Schlacht, die schon längst entschieden war, aber manchmal erkannte sie auch, dass ihre Chefin recht hatte. Faith wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie stieß die Autotür auf und hängte sich die Handtasche über die freie Schulter. Erschreckt von der kalten Luft, bewegte sich Emma. Faith zog die Decke hoch und drückte ihre Lippen auf den Kopf des Babys. Die Haut der Kleinen war warm. Die feinen Haare kitzelten Faith an den Lippen, als sie die Einfahrt hochging.
Sie dachte an die vielen Dinge, die sie noch tun musste, bevor sie ins Bett gehen konnte. Wie die Umstände auch sein mochten, das Haus musste aufgeräumt und Emma musste ins Bett gebracht werden. Jeremy brauchte Zuspruch und wahrscheinlich auch ein Abendessen. Irgendwann würde sie auch mit ihrem Bruder Zeke reden müssen. Falls es auf der Welt irgendeine Gnade gab, war er im Augenblick noch über dem Atlantik, auf dem Heimflug aus Deutschland, sodass sie heute Abend nicht mehr mit ihm sprechen musste. Ihre Beziehung war nie die beste gewesen. Zum Glück hatte Amanda die Anrufe übernommen, denn sonst hätte Faith den größten Teil des Nachmittags damit vergeudet, Zeke anzuschreien, anstatt mit der Polizei zu reden. Faith spürte eine gewisse Erleichterung, als sie die Vordertreppe hinaufging. Nur die Drohung, mit ihrem Bruder reden zu müssen, ließen die hinter ihr liegenden sechs Stunden angenehm erscheinen. Sie griff eben nach dem Knauf, als die Tür aufging.
» Wo, zum Teufel, bist du gewesen?«
Mit weit offenem Mund starrte Faith ihren Bruder an. » Wie hast du…«
» Was ist passiert, Faith? Was hast du getan?«
» Wie…«
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