Harter Schnitt
er dumm genug wäre, mitten in der Nacht zwei Männer aus dem Hochsicherheitstrakt zu holen.« Gefängnisse funktionierten nur mit strikter Routine, und alles, was diese Routine durchbrach, barg das Risiko eines Gewaltausbruchs in sich.
Will fragte: » Wollen Sie immer noch, dass ich meine Fallakten zu der Ermittlung durchsehe?«
» Natürlich.« Sie sagte es so, als hätte es nie Zweifel daran gegeben, dass sie über die Ermittlungen reden würden, die zu Evelyns erzwungenem Ausscheiden aus dem Dienst geführt hatten. » Kommen Sie morgen früh um fünf in mein Büro. Wir reden dann auf der Fahrt nach Valdosta über den Fall. Das sind hin und zurück jeweils drei Stunden. Mit Ben und Adam zu reden sollte nicht länger als eine halbe Stunden dauern– falls sie überhaupt etwas sagen. Das heißt, wir sind spätestens am Mittag wieder in der Stadt, um mit Miriam Kwon zu sprechen.«
Den toten Jungen in der Wäschekammer hatte Will fast schon vergessen. Nicht vergessen hatte er allerdings, wie Amanda darüber hinweggegangen war, dass sie Boyd Spivey gut genug kannte, um sich von ihm Mandy nennen zu lassen. Will musste annehmen, dass Ben Humphrey und Adam Hopkins ähnlich vertraut mit ihr waren, was wieder einmal bedeutete, dass Amanda innerhalb dieses Falls ihren eigenen Fall bearbeitete.
Sie sagte zu ihm: » Ich rufe bei den Bewährungsstellen in Memphis und Los Angeles an, um mit Chuck Finn und Demarcus Alexander in Kontakt zu kommen. Wir können nicht mehr tun, als ihnen die Nachricht zukommen zu lassen, dass Evelyn in Schwierigkeiten ist und wir bereit sind, ihnen zuzuhören, wenn sie bereit sind zu reden.«
» Sie waren Evelyn gegenüber alle sehr loyal.«
Sie blieb am Tor stehen und wartete, bis der Wachmann den Schlüssel gefunden hatte. » Ja, das waren sie.«
» Wer ist Ling-Ling?«
» Dazu kommen wir noch.«
Will öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch plötzlich gellte ein schriller Alarm durch die Luft. Die Warnlampen blinkten. Einer der Wachmänner packte Will am Arm. Der Instinkt übernahm, und Will riss sich los. Amanda reagierte offensichtlich ähnlich, aber sie beließ es nicht dabei. Sie rannte den Gang hinunter, ihre Absätze klapperten über den Fliesenboden. Will lief ihr nach. Er bog um die Ecke und wäre fast mit ihr zusammengestoßen, als sie unvermittelt stehen blieb.
Amanda sagte nichts. Sie stöhnte nicht auf und schrie nicht. Sie packte ihn einfach am Arm, und ihre Nägel drangen durch die dünne Baumwolle seines T-Shirts.
Boyd Spivey lag tot am Ende des Gangs. Sein Kopf war in einem unnatürlichen Winkel gegen den Körper verdreht. Der Wachmann neben ihm blutete aus einem klaffenden Schlitz in der Kehle. Will ging zu dem Mann. Er kniete sich hin und presste die Hände auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Es war zu spät. Blut breitete sich auf dem Boden aus wie ein schiefer Heiligenschein. Die Augen des Mannes fixierten Will, anfangs voller Panik– dann Leere.
5 . Kapitel
F aith bremste, als sie sich ihrem Haus näherte. Es war nach acht Uhr. Die letzten Stunden hatte sie damit zugebracht, immer und immer wieder durchzugehen, was im Haus ihrer Mutter passiert war, und dieselben Dinge wieder und wieder zu sagen, während ihr Anwalt, ihr Gewerkschaftsvertreter, drei Beamte des APD und ein Special Agent des GBI Fragen stellten, sich Notizen machten und sie ganz allgemein so behandelten, dass sie sich vorkam wie eine Kriminelle. In gewisser Hinsicht war deren Vermutung, Faith sei in das verwickelt, was zur Entführung ihrer Mutter geführt hatte, durchaus einleuchtend. Evelyn war Polizistin gewesen. Faith war Polizistin. Evelyn hatte einen Mann erschossen. Faith hatte zwei Männer erschossen– zwei potentielle Zeugen–, und das anscheinend völlig kaltblütig. Evelyn war verschwunden. Wenn Faith auf der anderen Seite des Tisches gesessen hätte, hätte sie dieselben Fragen gestellt.
Ob sie Feinde habe? Ob sie je Bestechungsgelder angenommen habe? Ob ihr je etwas Illegales vorgeschlagen worden sei? Ob sie Geld oder Geschenke angenommen habe, um ein Auge zuzudrücken?
Aber Faith saß nicht auf der anderen Seite des Tisches und, wie sehr sie ihr Gehirn auch zermarterte, es fiel ihr einfach kein Grund ein, warum irgendjemand ihre Mutter entführen sollte. Das Schlimmste an diesem Verhörzimmer war, dass fünf sehr fähige Beamte Zeit in einem luftlosen Raum vergeudeten, die sie besser auf die Suche nach ihrer Mutter verwendet hätten.
Wer würde so etwas tun? Hatte Evelyn
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