Harter Schnitt
genaueres Hinsehen lohnen. Beide waren in dollarschwere Razzien verwickelt. Einer stand auf Spiveys Liste der Verteidigungszeugen. Ich habe ihn herausgelegt, weil er bereits in der Vergangenheit Entführungen als Druckmittel in Bandenkriegen benutzt hatte.«
Will schlug den obersten Ordner auf.
Sara nannte ihm den Namen. » Ignatio Ortiz.«
Will stöhnte. » Er sitzt wegen versuchten Totschlags im Phillips State Prison.«
» Dann dürfte es nicht schwer sein, ihn zu finden.«
» Er ist der Anführer von Los Texicanos.«
Sara kannte die Gang. Sie hatte einige Jungs behandelt, die mit der Organisation zu tun hatten.
Will sagte: » Wenn Ortiz mit der Sache zu tun hat, wird er nie und nimmer mit uns reden. Wenn nicht, wird er nie und nimmer mit uns reden. So oder so, zu dem Gefängnis zu fahren, das würde drei bis vier Stunden für nichts bedeuten.«
» Er sollte als Zeuge für Spiveys Verteidigung auftreten.«
» Boyd hatte eine überraschende Anzahl von Gaunern, die bereit waren zu bezeugen, dass er ihr Geld nicht angerührt hatte. Eine ganze Horde von Kriminellen war bereit, für Evelyns Team einzutreten.«
» Haben Sie im Gefängnis von Boyd irgendwas erfahren?«
Will runzelte die Stirn. » Amanda hat ihn befragt. Sie redeten in einer Art Code. Ich habe allerdings mitgekriegt, dass Boyd sagte, die Asiaten würden versuchen, den Mexikanern den Nachschub abzuschneiden.«
» Los Texicanos«, sagte Sara.
» Amanda sagte mir, deren bevorzugte Methode ist es, Kehlen aufzuschlitzen.«
Sara legte die Hand in den Nacken und unterdrückte ein Schaudern. » Glauben Sie, dass Evelyn noch immer Geschäfte mit diesen Dealern machte?«
Er schloss Ortiz’ Akte. » Ich kann mir nicht vorstellen, wie. Ohne ihre Marke hat sie keinen Einfluss. Und ich sehe sie nicht als Schlüsselfigur, außer sie ist so was wie ’ne Soziopathin. Tagsüber die fürsorgliche Großmutter, nachts die Drogenkönigin.«
» Sie sagten, Ortiz sitzt wegen versuchten Totschlags im Gefängnis. Wen wollte er umbringen?«
» Seinen Bruder. Er ertappte ihn mit seiner Frau im Bett.«
» Vielleicht ist das der Bruder.« Sara schlug die nächste Akte auf. » Hector Ortiz«, sagte sie. » Dem Anschein nach kein schlechter Kerl. Ich habe ihn herausgelegt, weil er denselben Familiennamen wie Ignatio hat.«
Will zog das Verbrecherfoto aus der Akte, um es sich genauer anzusehen. » Sagt Ihnen Ihr Bauch noch immer, dass Evelyn unschuldig ist?«
Sara schaute auf die Uhr. In fünf Stunden musste sie in der Klinik sein. » Mein Bauch hat sich schon schlafen gelegt. Wieso?«
Er hielt ihr Hector Ortiz’ Foto hin. Der Mann war kahlköpfig und hatte einen grauen Ziegenbart. Sein Hemd war zerknittert. Er hatte den Arm erhoben und zeigte der Kamera ein Tattoo: einen grünen und roten Texas-Stern mit einer sich darum windenden Klapperschlange.
Will sagte: » Darf ich Ihnen Evelyns Freund vorstellen?«
SONNTAG
7 . Kapitel
S chon vor Stunden waren aus den Schlägen mit der flachen Hand Fausthiebe geworden. Vor Tagen? Evelyn wusste es nicht so recht. Man hatte ihr die Augen verbunden, sie saß in völliger Dunkelheit da. Irgendetwas tropfte– ein Wasserhahn, ein Abfluss, Blut–, sie wusste es nicht. Ihr Körper war so schmerzzerfressen, dass nichts, auch wenn sie die Augen zukniff und jeden kreischenden Muskel, jeden gebrochenen Knochen zu ignorieren versuchte, sich unbeschädigt anfühlte.
Sie stieß keuchend ein Lachen hervor. Blut spritzte ihr aus dem Mund. Ihr fehlender Finger. Das war der einzige Knochen, der nicht gebrochen, das einzige Stück Fleisch, das nicht gequetscht war.
Sie hatten mit den Füßen angefangen, mit einem verzinkten Metallrohr auf ihre Sohlen geschlagen. Es war eine Form der Folter, die sie offensichtlich in einem Film gesehen hatten, was Evelyn wusste, weil einer von ihnen hilfsbereit angemerkt hatte: » Der Kerl hat weiter ausgeholt, so ungefähr.« Was Evelyn gespürt hatte, konnte man nicht Schmerz nennen. Es war das Brennen der Haut, das ihr Blut wie Feuer durch den ganzen Körper jagte.
Wie die meisten Frauen hatte sie sich bis dahin vor allem vor einer Vergewaltigung gefürchtet, aber jetzt wusste sie, dass es viel Schlimmeres gab. Eine Vergewaltigung hatte wenigstens eine animalistische Logik. Diesen Männern machte es kein Vergnügen, sie zu quälen. Ihre Belohnung waren die Anfeuerungsrufe ihrer Freunde. Sie wollten einander beeindrucken, wetteiferten darum, wer ihr die lautesten Schreie entlocken konnte. Und Evelyn
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