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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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lachte, nur um den Klang, die Verzweiflung zu hören.
    Die Tür ging auf. Ein wenig Licht drang unter ihre Augenbinde. Sie hörte Männer murmeln. Sie redeten über irgendeine Fernsehserie, irgendeinen Film, etwas, das eine neue Technik zeigte, die sie ausprobieren wollten.
    Evelyn atmete tief ein, obwohl ihr bei jedem Atemzug die gebrochenen Rippen in die Lunge stachen. Am liebsten wäre ihr, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Sie betete um Kraft zu einem Gott, zu dem sie nicht mehr gesprochen hatte seit dem Tag, als ihr Mann gestorben war.
    Der mit dem stinkenden Atem sagte: » Bist du jetzt bereit zu reden, du Schlampe?«
    Evelyn nahm all ihre Kraft zusammen. Sie durfte nicht den Eindruck erwecken, sie würde so leicht nachgeben. Sie würde sich wieder schlagen lassen müssen, ihnen das Gefühl geben, sie hätten nun endlich gewonnen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einem Mann das Gefühl gab, er hätte sie völlig unter Kontrolle, aber es würde mit Sicherheit das letzte Mal sein.
    Er drückte die Hand auf ihr gebrochenes Bein. » Bereit für den Schmerz?«
    Es würde funktionieren. Es musste funktionieren. Evelyn würde ihren Teil dazutun, und ihr Tod würde es beenden, sie von ihren Sünden reinwaschen. Faith würde es nie herausfinden. Zeke würde es nie wissen. Ihre Kinder und Enkel wären in Sicherheit.
    In Sicherheit– bis auf eine Sache.
    Evelyn schloss die Augen und sandte Roz Levy eine stumme Botschaft, in der Hoffnung, dass die alte Frau den Mund halten würde.

8 . Kapitel
    F aith hatte die Augen geschlossen, aber sie konnte nicht schlafen. Wollte nicht schlafen. Die Nacht war quälend langsam vergangen, hatte sich dahingezogen wie die Sichel des Todes, die über den Boden schabt. Seit Stunden lauschte sie schon jedem Knarzen und Ächzen des Hauses, wartete auf Bewegungen unten, die andeuteten, dass Zeke endlich aufgewacht war.
    Der Finger ihrer Mutter lag versteckt in einer halb leeren Pflasterschachtel in Faith’ Medizinschränkchen. Er steckte in einer Ziploc-Tüte, die sie in einem alten Koffer gefunden hatte. Faith hatte sich überlegt, ob sie ihn auf Eis legen sollte oder nicht, aber bei dem Gedanken, den Finger ihrer Mutter zu konservieren, war ihr die Galle in die Kehle gestiegen. Außerdem hatte sie gestern Abend nicht noch einmal nach unten gehen und Zeke gegenübertreten wollen oder den Detectives, die an ihrem Küchentisch saßen, oder ihrem Sohn, der sicher zu ihnen gekommen wäre, wenn er gehört hätte, dass seine Mutter aufgestanden war. Faith wusste, wenn sie sie alle sah, würde sie anfangen zu weinen, und wenn sie anfing zu weinen, würden sie schnell herausfinden, warum.
    Mund zu und Augen auf.
    Genau das würde sie tun, auch wenn die Polizistin in ihr kreischte, dass es ein unglaublich großer Fehler wäre, den Anordnungen der Entführer zu folgen. Man überließ ihnen nie die Oberhand. Man ging nie auf eine Forderung ein, ohne im Gegenzug auch etwas zu verlangen. Dutzende Male hatte Faith anderen Familien diese grundlegenden Strategien beigebracht. Jetzt merkte sie, dass es etwas völlig anderes war, wenn die geliebte Person, die in Gefahr war, das eigene Fleisch und Blut war. Wenn Evelyns Entführer Faith befohlen hätten, sich mit Benzin zu übergießen und ein Streichholz anzuzünden, hätte sie es getan. Die Logik verabschiedete sich, wenn die reale Gefahr bestand, dass sie ihre Mutter vielleicht nie mehr wiedersehen würde.
    Trotzdem forderte die Polizistin in ihr Details. Man konnte Tests durchführen, um herauszufinden, ob Evelyn noch am Leben gewesen war, als der Finger entfernt wurde. Mit anderen Tests konnte man eindeutig bestimmen, ob der Finger überhaupt Evelyn gehört hatte. Er sah aus wie ein Frauenfinger, aber Faith hatte sich nie lange damit aufgehalten, die Hände ihrer Mutter zu betrachten. Ein Ehering war nicht vorhanden. Evelyn hatte ihn schon vor einigen Jahren abgenommen. Das war eines dieser Dinge, die Faith anfangs gar nicht bemerkt hatte. Vielleicht war ihre Mutter aber auch einfach nur eine gute Lügnerin. Sie hatte gelacht, als Faith sie nach ihrer ringlosen Hand fragte, und gesagt: » Ach, den habe ich schon vor Ewigkeiten abgenommen.«
    War ihre Mutter eine Lügnerin? Das war die zentrale Frage. Faith log Jeremy die ganze Zeit an, aber bei Dingen, bei denen alle Mütter gegenüber ihren Kindern lügen sollten: bei ihrem Liebesleben, bei dem, was in der Arbeit passierte, wie es mit ihrer Gesundheit stand. Evelyn hatte gelogen, als Zeke in

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