Harter Schnitt
hätten.« Er öffnete die nächste Schachtel und zog Ordner heraus. Auch sie waren farbcodiert. Er gab ihr zunächst die grünen. » Zeugenaussagen für die Staatsanwaltschaft.« Er stapelte die roten aufeinander. » Zeugenaussagen für die Verteidigung.« Er holte die blauen heraus. » Fette Razzien– alles, bei dem mehr als zweitausend Dollar beschlagnahmt wurden.«
Sara machte sich sofort an die Arbeit und las sorgfältig die nächste Personalakte. Ben Humphrey war dieselbe Art Polizist gewesen wie Boyd Spivey: von solider Statur, gut in seiner Arbeit, mediengeil und am Ende absolut korrupt. Dasselbe traf auf Adam Hopkins und Demarcus Alexander zu, die beide belobigt worden waren wegen Tapferkeit unter Beschuss bei einem Bankraub und die beide ihre Ferienhäuser in Florida bar bezahlt hatten. Lloyd Crittenden hatte seine Marke verdient, weil er sich bei der Verfolgung eines Mannes, der mit einer abgesägten Schrotflinte in einer schäbigen Bar herumgeschossen hatte, mit seinem Streifenwagen sechsmal überschlagen hatte. Außerdem konnte er seinen Mund nicht halten. Es gab zwei Verwarnungen wegen Insubordination, doch in Evelyns Jahresberichten wurde er immer nur in den höchsten Tönen gelobt.
Der Einzige, der ein wenig herausstach, war Chuck Finn, der ein bisschen intellektueller als seine Kollegen zu sein schien. Finn promovierte in der Zeit über die italienische Renaissance, als er verhaftet wurde. Sein Lebensstil war nicht so ausschweifend wie der der anderen. Er hatte seine unredlich erworbenen Einkünfte dazu verwendet, sich weiterzubilden und die Welt zu bereisen. Offensichtlich hatte er das Team auf sehr subtile Art komplettiert. Evelyn Mitchell hatte sich jeden Einzelnen aus einem ganz bestimmten Grund ausgesucht. Einige waren Anführer, andere– wie Chuck Finn– waren offensichtlich Gefolgsleute. Doch alle entsprachen einem allgemeinen Profil: Sie leisteten mehr, als von ihnen erwartet wurde, und standen im Dezernat in dem Ruf, alles zu tun, was getan werden musste. Drei waren weiß. Zwei waren schwarz. Einer war ein halber Cherokee. Und alle hatten für kalte, harte Währung alles aufgegeben.
Will drehte die Kassette im Walkman um. Die Hörstöpsel in den Ohren, saß er mit geschlossenen Augen da. Sara konnte das Surren des Rekorders hören.
Der nächste Ordnerstapel enthielt Details über jede dollarschwere Razzia oder Verhaftung, die sie im Verlauf der Jahre durchgeführt und dabei vermutlich auch abgesahnt hatten. Sara hatte befürchtet, diese Akten würden am schwierigsten durchzuarbeiten sein, aber sie erwiesen sich alle als ziemlich normal. Der illegale Drogenhandel war so beschaffen, dass die meisten Männer, die das Team verhaftet hatte, entweder tot oder im Gefängnis waren, als Evelyns Truppe aufflog. Nur einige wenige waren noch auf freiem Fuß und offensichtlich aktiv. Sara kannte die meisten der Namen aus den Abendnachrichten. Sie legte zwei der Akten für Will auf die Seite.
Sara schaute auf die Uhr. Es war deutlich nach Mitternacht, und sie hatte am nächsten Tag Frühschicht. Wie aufs Stichwort klappte ihr Mund zu einem Gähnen auf, dass die Kiefer knackten. Sie warf einen kurzen Blick zu Will hinüber, um zu sehen, ob er es bemerkt hatte. Sie hatten noch immer einen großen Stapel Ordner vor sich. Sie hatte zwar erst die Hälfte durchgearbeitet, konnte aber einfach nicht aufhören, auch wenn sie es gewollt hätte. Es war, als würde sie Spuren und Hinweise in einem Krimi zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Die Guten waren genauso korrupt wie die Bösen. Die Bösen schienen Schmiergelder als Teil der Unkosten ihres Gewerbes zu betrachten. Beide Parteien hatten wahrscheinlich eine lange Liste von Rechtfertigungen für ihr illegales Treiben.
Sie nahm den nächsten Stapel in Angriff. Die sechs Männer aus Evelyns Team hatten nie vor Gericht gestanden, offensichtlich wurden die Deals kurz vor Prozessbeginn unter Dach und Fach gebracht. Die potenziellen Zeugen der Anklage waren sehr genau überprüft worden, aber nicht mehr als die der Verteidigung. Die Namen waren Will sicher bekannt, Sara las trotzdem jede Akte sorgfältig durch. Nach einer guten Stunde des Vergleichs der Aussagen freute sie sich schließlich auf die letzte Akte, die sie sich aufgehoben hatte als Belohnung dafür, dass sie nicht aufgegeben hatte.
Das Foto von Evelyn Mitchell zeigte eine adrette Frau mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. Die Verhaftung musste für sie eine Demütigung gewesen sein, nachdem
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