Harter Schnitt
keine Lieblingskinder haben, aber Zeke war ihre offensichtliche Wahl. Ehrgeizig. Intelligent. Tüchtig. Loyal. Er war der Erstgeborene, ein schüchterner, kleiner Junge, der an Evelyns Rockzipfel gehangen hatte, wenn Fremde zu Besuch kamen. Ein Dreikäsehoch, der bei ihr gesessen hatte, während sie das Abendessen kochte, und es geliebt hatte, mit ihr zum Einkaufen zu gehen, damit er ihr beim Tragen der Tüten helfen konnte. Die kleine Brust herausgestreckt. Die Zähne in einem stolzen, glücklichen Grinsen gebleckt.
Aber es war Faith, der Evelyn sich am nächsten fühlte. Faith, die so viele Fehler gemacht hatte. Faith, der Evelyn immer vergeben konnte, weil sie, sooft sie ihre Tochter anschaute, immer auch ein wenig sich selbst sah.
Ihre gemeinsame Zeit. Ans Haus gefesselt. Diese Monate des erzwungenen Rückzugs. Des erzwungenen Exils. Des erzwungenen Elends.
Bill hatte es nie verstanden, aber es lag auch nicht in seinem Wesen, Fehler zu verstehen. Er war der Erste gewesen, der ihren dicker werdenden Bauch bemerkte. Er war der Erste gewesen, der sie deswegen zur Rede stellte. Neun Monate blieb er stoisch und selbstgerecht, und da hatte Evelyn plötzlich verstanden, woher Zeke diese Tendenzen hatte. In der schwersten Zeit war er aus ihrer aller Leben so gut wie verschwunden. Und auch als es vorbei war und Jeremy ihr Leben erhellt hatte wie die Sonne, die nach einem Sommergewitter wieder schien, war Bill nicht mehr der Alte.
Aber auch Evelyn war danach nicht mehr die Alte. Auch sonst niemand. Faith war damit beschäftigt herauszufinden, wie man ein Kind aufzog. Zeke, der schon seit seiner Zeit als Baby nichts anderes wollte als Evelyns Aufmerksamkeit, war so weit weggegangen wie möglich, ohne den Planeten zu verlassen. Ihr kleiner Junge war verloren. Es zerriss ihr schier das Herz.
Sie konnte es nicht mehr ertragen, darüber nachzudenken.
Evelyn drückte den Rücken durch, um den Druck von ihrem Zwerchfell zu nehmen. Sie konnte nicht länger durchhalten. Sie brach zusammen. Diese jungen Männer mit ihren Videospielen und Filmfantasien hatten ein unbeschränktes Reservoir an Ideen zur Verfügung. Sie hatten kein Problem, an Drogen heranzukommen. Barbiturate. Äthanol. Scopolamin. Natrium Pentothal. Und jeder dieser Stoffe konnte als Wahrheitsserum verwendet werden. Jeder konnte die Information aus ihr herauslocken.
Allein schon die quälend langsam vergehende Zeit konnte sie zum Reden bringen. Die unaufhörliche Agonie. Das erbarmungslose Sperrfeuer der Anschuldigungen. Sie waren so zornig, so feindselig.
So barbarisch.
Sie würde sterben. Evelyn hatte in dem Augenblick, als sie im Transporter aufwachte, gewusst, dass nur der Tod dies beenden konnte. Anfangs dachte sie, sie würde den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen können. Doch sie erkannte sehr schnell, dass es genau andersherum sein würde. Kontrolle hatte sie nur noch über ihren Mund. Während dieses ganzen Martyriums hatte sie die Männer kein einziges Mal angefleht aufzuhören. Sie hatte nicht um Gnade gebettelt. Sie hatte ihnen nicht das Gefühl gegeben, sie wären so tief in ihren Kopf eingedrungen, dass hinter jedem Gedanken ein Schatten lauerte.
Was aber, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte?
Evelyn hatte das Geheimnis über so viele Jahre verborgen, dass allein der Gedanke daran, es sich von der Seele zu reden, ihr einen gewissen Frieden brachte. Diese Männer waren ihre Peiniger, nicht ihre Beichtväter, aber in ihrer Situation brachte ihr Haarspalterei nichts. Vielleicht würde ihr Tod sie von ihren Sünden erlösen. Vielleicht würde es zum ersten Mal seit langer Zeit ein Augenblick der Erleichterung sein, wenn Evelyn spürte, dass die Last des Betrugs sich endlich von ihren Schultern löste.
Nein. Sie würden ihr nicht glauben. Sie würde ihnen eine Lüge erzählen müssen. Die Wahrheit war zu enttäuschend. Zu gewöhnlich.
Es würde eine glaubhafte Lüge sein müssen, eine so überzeugende, dass sie sie töten würden, ohne das Gesagte vorher zu überprüfen. Diese Männer waren brutale Kriminelle, aber keine Profis. Sie hatten nicht die Geduld, eine alte Frau, die ihnen so lange die Stirn geboten hatte, bei sich zu behalten. Sie würde ihre Tötung als den ultimativen Beweis ihrer Männlichkeit betrachten.
Sie bedauerte nur, dass sie nicht mehr da sein würde, wenn sie erkannten, dass sie ausgetrickst worden waren. Sie hoffte, sie würden für den Rest ihres elenden, erbärmlichen Lebens ihr Lachen aus der Hölle hören.
Sie
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