Harter Schnitt
schrie. Sie schrie so laut, dass sie Angst hatte, ihre Stimmbänder würden reißen. Sie schrie vor Schmerz. Sie schrie vor Entsetzen. Sie schrie vor Ärger, Wut, Verlust. Sie schrie vor allem, weil diese miteinander wettstreitenden Empfindungen sich anfühlten, als würde ihr brennend heiße Lava die Kehle hochsteigen.
Irgendwann einmal hatten sie ausführlich darüber diskutiert, wo der Vagusnerv im Bauchraum verlaufe. Die drei wechselten sich ab, boxten sie in die ungefähre Region ihrer Nieren wie Kinder, die auf eine Pappmachépuppe einschlagen, bis einer von ihnen ins Schwarze trifft. Als Evelyn dann verkrampfte wie von einem Stromschlag getroffen, hatte sie unkontrolliert gelacht. Das Gefühl war abgrundtiefes Entsetzen. Noch nie in ihrem Leben hatte Evelyn sich dem Tod so nahe gefühlt. Sie hatte sich in die Hose gemacht. Sie hatte in die Dunkelheit geschrien, bis kein Laut mehr aus ihrem Mund drang.
Und dann hatten sie ihr das Bein gebrochen. Es war kein sauberer Bruch, sondern die Folge unzähliger Schläge mit einem schweren Metallrohr gegen das Schienbein, bis schließlich das hallende Knirschen eines splitternden Knochens zu hören war.
Einer von ihnen quetschte die Bruchstelle mit der Hand und hauchte ihr seinen stinkenden Atem ins Ohr. » Genau das hat diese blöde Schlampe mit Ricardo gemacht.«
Die blöde Schlampe war ihre Tochter. Sie konnten nicht wissen, wie sehr diese Worte ihr Hoffnung gegeben hatten. Sie war bewusstlos geschlagen und aus dem Haus geschleppt worden, kurz nachdem Faith’ Auto in der Einfahrt gehalten hatte. Auf der Ladefläche eines Transporters war Evelyn wieder zu sich gekommen. Das Motorgeräusch hatte ihr in den Ohren gedröhnt, aber sie hatte deutlich zwei Schüsse gehört, den zweiten Schuss gute vierzig Sekunden nach dem ersten.
Jetzt kannte Evelyn die Antwort auf die einzige Frage, die sie davon abhielt, einfach aufzugeben. Faith war am Leben. Sie war davongekommen. Danach war jeder Gräuel, mit dem sie Evelyn heimsuchten, ohne jede Bedeutung. Sie dachte an Emma in den Armen ihrer Tochter, an Jeremy bei seiner Mutter. Zeke würde auch da sein. Er war so voller Zorn, aber er hatte sich immer um seine Schwester gekümmert. Das APD würde sie umgeben wie ein Schutzwall. Will Trent würde sein Leben aufs Spiel setzen, um Faith zu beschützen. Amanda würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Gerechtigkeit zu erreichen.
» Almeja …« Evelyns Stimme klang heiser in dem engen Raum.
Sie konnte nur noch hoffen, dass ihre Kinder verschont blieben. Hier konnte sie niemand herausholen. Es gab keine Hoffnung auf Rettung. Amanda konnte ihr in diesem Schmerz nicht beistehen. Bill Mitchell würde nicht auf seinem Schimmel geritten kommen, um sie zu retten.
Sie war so dumm gewesen. Ein Fehler vor so vielen Jahren. Ein furchtbarer, dummer Fehler.
Evelyn spuckte einen ausgeschlagenen Zahn aus. Ihr letzter rechter Backenzahn. Sie spürte, wie der nackte Nerv auf die Kälte in der Luft reagierte. Sie versuchte, die Stelle mit der Zunge zu bedecken, wenn sie durch den Mund atmete. Sie musste die Luftwege offen halten. Ihre Nase war gebrochen. Wenn sie aufhörte zu atmen oder mit Blut in der Kehle ohnmächtig wurde, konnte sie ersticken. Eigentlich sollte sie diese Erlösung begrüßen, aber der Gedanke an den Tod jagte ihr Angst ein. Evelyn war schon immer eine Kämpferin gewesen. Es lag in ihrer Natur, die Zähne zu zeigen, wenn man ihr zusetzte. Und doch spürte sie, dass sie allmählich zusammenbrach– nicht vor Schmerz, sondern vor Erschöpfung. Sie spürte, dass ihre Entschlossenheit aus ihr herausfloss wie Wasser durch ein Sieb. Wenn sie jetzt schwach wurde, dann konnte es sein, dass sie bekamen, was sie wollten. Es konnte sein, dass ihr Mund sich bewegte und ihre Stimme funktionierte, obwohl ihr Kopf ihr befahl zu schweigen.
Und was dann?
Sie würden sie töten müssen. Sie wusste, wer sie waren, obwohl sie Masken getragen und ihr die Augen verbunden hatten. Sie kannte ihre Stimmen. Ihre Namen. Ihren Geruch. Sie wusste, was sie vorhatten, was sie bereits getan hatten.
Hector.
Sie hatte ihn im Kofferraum ihres Autos gefunden. Trotz Schalldämpfer gab es so etwas wie einen stillen Schuss nicht. Zweimal in ihrem Leben hatte Evelyn dieses Geräusch gehört, und das Zischen von Gas in einem Metallzylinder hatte sie sofort erkannt.
Wenigstens hatte sie Emma beschützt. Wenigstens hatte sie das Kind ihrer Tochter in Sicherheit gebracht.
Faith.
Mütter sollten eigentlich
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