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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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jede ihrer Bewegungen überwachten.
    Schließlich hörte sie unten die Toilettenspülung. Ein paar Sekunden später ging die Tür auf und wieder zu. Zeke ging wahrscheinlich zum Joggen, oder die Detectives hatten beschlossen, für ein bisschen frische Luft vorn vor die Tür zu gehen und nicht hinten.
    Faith’ Achillessehnen zitterten vor Schmerz, als sie die Füße auf den Boden stellte. Sie hatte so lange zusammengerollt dagelegen, dass ihr ganzer Körper steif war. Von einigen Kontrollgängen zu Emma abgesehen, hatte sie sich gestern Nacht nicht herumzugehen getraut, weil sie befürchtete, Zeke würde hochkommen und sie fragen, was, zum Teufel, sie tue. Das Haus war alt, die Dielen knarzten, und ihr Bruder hatte einen sehr leichten Schlaf.
    Sie fing mit ihrer Kommode an, zog vorsichtig jede Schublade auf und schaute Unterwäsche und T-Shirts durch, um nachzuprüfen, ob etwas durchwühlt worden war. Alles schien an Ort und Stelle zu sein. Als Nächstes ging sie zum Wandschrank. Ihre Arbeitsgarderobe bestand vorwiegend aus schwarzen Hosenanzügen mit einem Gummizug im Hosenbund, damit sie sich nicht den Kopf zerbrechen musste, ob sie sich am Morgen noch schließen ließen. Ihre Umstandskleidung lag in einer Schachtel im untersten Fach. Faith zog sich einen Stuhl heran und kontrollierte, ob das Klebeband noch unbeschädigt war. Auch der Stapel Bluejeans daneben sah unangetastet aus. Dennoch schaute sie in alle Taschen und machte dann dasselbe bei den Hosenanzügen.
    Nichts.
    Faith stieg auf den Stuhl und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ins oberste Fach zu kommen, wo sie die Schachtel mit Jeremys Kindheitserinnerungen verstaut hatte. Sie wäre ihr beinahe auf den Kopf gefallen. Die Schachtel war nicht mehr zugeklebt. Das Klebeband hatte sich schon vor Monaten abgelöst. Während ihrer Schwangerschaft mit Emma war Faith ganz versessen darauf gewesen, in Jeremys Kindheitsandenken zu wühlen. Nur gut, dass sie allein lebte, denn sonst hätte jemand ernsthaft an ihrer emotionalen Stabilität gezweifelt. Allein schon der Anblick seiner bronzierten Schuhe und der kleinen Strickstiefelchen hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben. Seine Zeugnisse. Seine Schulhefte. Muttertagskarten, die er mit Kreide gezeichnet hatte. Valentinskarten, die er mit seiner winzigen, stumpfen Schere ausgeschnitten hatte.
    Ihre Augen brannten, als sie die Schachtel öffnete. Eine Locke von Jeremys Haaren lag oben auf seinem Zeugnis aus der zwölften Klasse. Das blaue Band sah irgendwie anders aus. Sie hielt die Locke gegen das Licht. Die Zeit hatte die pastellfarbene Seide ausgebleicht, den Falten ein schmuddeliges Aussehen verliehen. Die Haare waren zu einem goldenen Braun nachgedunkelt. Irgendetwas wirkte anders. Sie konnte nicht sagen, ob die Schleife neu gebunden worden war oder ob sie sich in der Schachtel gelockert hatte. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie die Zeugnisse von der ersten bis zur zwölften Klasse gestapelt hatte oder andersherum. Es sprach gegen die Intuition, dass das letzte Zeugnis ganz oben lag, vor allem, dass die Locke obendrauf lag. Vielleicht trieb sie sich aber nur selbst in den Wahnsinn, obwohl doch alles in Ordnung war.
    Faith hob den Stapel Zeugnisse hoch und schaute darunter. Seine Hefte waren noch da. Sie sah die Bronzeschuhe, die Strickstiefelchen, die Grußkarten aus Buntpapier, die er in der Schule gebastelt hatte.
    Alles schien noch an Ort und Stelle zu sein, und doch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendjemand etwas mit der Schachtel angestellt hatte. Hatten Fremde in Jeremys Sachen gewühlt? Hatten sie die Herzen gesehen, die Jeremy auf das Foto von Mr. Billingham, seinem ersten Hund, gemalt hatte? Hatten sie in seinen Zeugnissen geblättert und gelacht, weil Mrs. Thompson, seine Lehrerin in der vierten Klasse, ihn einen kleinen Engel genannt hatte?
    Faith klappte die Schachtel wieder zu, hob sie hoch und schob sie ins Fach zurück. Als sie den Stuhl dann wieder an seinen Platz zurückstellte, zitterte sie vor Wut bei dem Gedanken, dass ein Fremder Jeremys Kindersachen in seinen schmutzigen Fingern gehabt hatte.
    Als Nächstes ging sie in Emmas Zimmer. Normalerweise schlief die Kleine nicht die ganze Nacht durch, aber der gestrige Tag war ungewöhnlich lang und turbulent gewesen. Sie schlief noch, als Faith ins Bettchen schaute. Ihre Kehle gab beim Schlafen ein leises Klicken von sich. Faith legte ihr die Hand auf die Brust. Emmas Herz fühlte sich unter ihrer Hand an wie

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