Harter Schnitt
die USA zurückversetzt wurde, aber nur, um den Frieden zu bewahren, und wahrscheinlich, um zu verhindern, dass Zekes Missbilligung das glückliche Ereignis von Emmas Geburt überschattete.
Diese Lügen zählten nicht. Das waren schützende Lügen, keine böswilligen Lügen, die sich entzündeten wie ein Splitter unter der Haut. Hatte Evelyn Faith auf eine Art belogen, die wichtig war? Gab es etwas Größeres, das Evelyn versteckte, etwas, das mehr war als das Offensichtliche? Evelyns Haus erzählte diese Geschichte. Die Umstände ihrer Entführung waren der Beweis. Sie besaß etwas, das sehr böse Männer wollten. Ihre Mutter hatte das Drogendezernat geleitet. Hatte sie die ganze Zeit auf einem Haufen Bargeld gesessen? Gab es irgendwo versteckt eine geheime Kammer? Würden Faith und Zeke bei Evelyns Testamentseröffnung erfahren, dass ihre Mutter in Wahrheit wohlhabend war?
Nein, das war nicht möglich. Evelyn würde wissen, dass ihre Kinder jedes unrechtmäßig erworbene Geld der Polizei aushändigen würden, wie sehr es ihr Leben auch vereinfachen würde. Hypotheken, die Raten fürs Auto, Studiendarlehen– weder Zeke noch Faith würden schmutziges Geld nehmen. Evelyn hatte sie anders erzogen.
Und sie hatte Faith zu einer besseren Polizistin erzogen, als dass sie jetzt nur herumsitzen und auf den Sonnenaufgang warten würde.
Wenn Evelyn jetzt hier wäre, was würde sie von Faith wollen? Amanda anrufen war die offensichtliche Antwort. Die beiden Frauen hatten sich immer sehr nahegestanden. » Wie Pech und Schwefel« hatte Bill Mitchell oft gesagt, und er hatte das nicht schmeichelhaft gemeint. Auch nachdem Faith’ Onkel Kenny beschlossen hatte, einen Narren aus sich zu machen, indem er an den Stränden Südfloridas jüngeren Frauen nachstellte, hatte Evelyn deutlich gemacht, dass sie am Weihnachtstisch der Familie lieber Amanda sitzen hatte als Kenny Mitchell. Die beiden Frauen hatten einen Code, wie Soldaten ihn benutzten, die aus einem Krieg zurückkamen.
Aber jetzt Amanda anzurufen stand außer Frage. Sie würde herbeigestürmt kommen wie ein Elefant im Porzellanladen. Faith’ Haus würde auf den Kopf gestellt werden. Ein SWAT -Sondereinsatzkommando wäre vor Ort. Die Entführer würden nur einen flüchtigen Blick auf diese Machtdemonstration werfen und erkennen, dass es einfacher war, ihrem Opfer eine Kugel in den Kopf zu jagen, als mit einer Frau zu verhandeln, die ganz versessen auf Rache war. Denn genau so würde Amanda vorgehen. Sie machte nie irgendetwas leise. Es hieß immer hundert Prozent oder gar nichts.
Will konnte sehr gut leise vorgehen. Er hatte diese Technik perfektioniert. Und er war ihr Partner. Ihn sollte sie anrufen oder ihm zumindest eine Nachricht zukommen lassen. Aber was würde sie sagen? » Ich brauche Ihre Hilfe, aber Sie dürfen Amanda nichts sagen, und vielleicht müssen wir das Gesetz brechen, aber bitte stellen Sie mir keine Fragen.« Das war ein unhaltbarer Zustand. Er hatte bereits gestern für sie die Regeln gebeugt, aber sie konnte nicht von ihm verlangen, sie zu brechen. Es gab keinen Menschen, dem sie mehr vertraute als Will, aber er hatte manchmal einen sehr irritierenden Begriff von richtig und falsch. Ein Teil von ihr hatte Angst, dass er ablehnen würde. Ein größerer Teil von ihr hatte Angst, dass sie ihn in Schwierigkeiten bringen würde, aus denen er nie wieder herauskäme. Wenn Faith ihre Karriere aufs Spiel setzte, war das ihre Sache. Aber sie konnte von Will nicht verlangen, dasselbe zu tun.
Sie stützte den Kopf in die Hände. Auch wenn sie sich an jemanden wenden wollte, die Telefone wurden überwacht, für den Fall einer Lösegeldforderung. Ihre E-Mail lief über ihr GBI -Konto, das höchstwahrscheinlich ebenfalls überwacht wurde. Wahrscheinlich hörten sie auch bei all ihren Handy-Gesprächen mit.
Und das waren nur die Guten. Wer konnte wissen, was Evelyns Entführer alles geschafft hatten? Sie kannten Jeremys Spitznamen, sein Geburtsjahr, seine Schule. Sie hatten ihm eine Warnung auf sein Facebook-Konto geschickt. Vielleicht hatten sie auch das Haus verwanzt. Im Internet konnte man sich Geräte in Spionagequalität besorgen. Wenn Faith nicht durchs ganze Haus lief und alle Lichtschalter und alle Telefonapparate zerlegte, konnte kein Mensch sagen, ob da nicht jemand zuhörte. Doch sobald sie anfing, sich vor ihrer Familie wie eine Verrückte aufzuführen, würden sie merken, dass etwas nicht stimmte. Ganz zu schweigen von den Detectives des APD , die
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