Hasenherz
seinem Süppchen, den roh geriebenen Mohrrüben und dem Butterbrot, geht Harry mit ihm nach oben, bringt ihn zu Bett und kehrt dann ins Wohnzimmer auf seinen Stuhl zurück. Janice ist eingeschlafen, und das Surren von Mrs. Springers Nähmaschine spinnt sich in das Vogelgezwitscher und das Rauschen des frühen Nachmittags hinaus. Janice wacht auf und kommt herunter, sie geht zum Eisschrank und dann wieder hinauf, und ihre Stimme vermischt sich mit der ihrer Mutter. Mr. Springer kommt nach Haus, er tritt ins Zimmer und versucht, eine belanglose Unterhaltung zu führen; er wittert, daß Harrys Stellung in diesem Haus sich wieder verschlechtert hat. Er trottet nach oben, zu den Frauen. Fußtritte bumsen über Harry. Das feine Porzellan im verglasten Schrank hinter ihm klirrt leise. Er überlegt, ob seine Magenschmerzen wohl daher rühren, daß er in den letzten beiden Tagen so wenig gegessen hat, und er geht in die Küche und ißt zwei Crackers. Ihm ist, als schlage jeder Bissen auf einem verschrammten Boden in ihm auf. Der Schmerz wird größer. Die blanken Emaillegegenstände, die metallbelegten Schranktüren – alles scheint mit einem umgekehrten Magnetstrom geladen, der ihn rings bedrängt und ein klemmt. Er geht ins schattige Wohnzimmer und stellt sich ans Fenster, das auf die Straße hinaussieht, und schaut zwei Teenagern nach, die in hautengen Shorts über den sonnigen Bürgersteig flanieren. Ihre Körper sind durchaus schon vorhanden, aber ihre Gesichter sind noch ganz unverdorben. Das ist komisch bei vierzehnjährigen Mädchen: dieser Eifer, diese geschäftige Pausbackigkeit. Essen zu viel Süßigkeiten, das macht die Haut sauer. Sie gehen so langsam, wie die Zeit bis zur Beerdigung verstreicht. Töchter sind es, Töchter, wäre June auch – er erstickt den Gedanken. Die langen Beine der Mädchen und ihre langsa men, sich entfaltenden Bewegungen erscheinen ihm abstoßend und unwirklich. Und er selber, der sie vom Fenster aus beobachtet, kommt sich wie ein Schmutzfleck auf der Scheibe vor. Er denkt, warum wischt das Universum so etwas Kleines, Schmutziges nicht einfach weg? Er sieht seine Hände an und findet sie geradezu grotesk häßlich.
Er geht nach oben und wäscht sich die Hände, Gesicht und Hals mit übertriebener Sorgfalt. Er wagt nicht, die eleganten Springerschen Handtücher zu benutzen. Mit nassen Händen tritt er aus dem Badezim mer, und im gedämpften Korridor stößt er auf Mr. Springer, und er sagt: «Ich habe kein sauberes Hemd.» «Warten Sie», sagt Springer und bringt ihm ein Hemd und schwarze Manschettenknöpfe. Harry zieht sich in dem Zimmer um, in dem Nelson schläft. Sonne unter den heruntergezogenen Rouleaus. Der schwere Atem des Jungen. Das Umziehen braucht weniger Zeit, als Harry gehofft hat. Der Wollanzug ist ungemütlich warm, aber irgend etwas in ihm ist störrisch und erlaubt nicht, daß er das Jackett wieder auszieht. So sitzt er dann, untadelig angezogen, mit einem etwas zu knappen Hemd, im Wohnzimmer und betrachtet die tropischen Pflanzen auf dem Glastisch, bewegt den Kopf, damit mal dieses Blatt jenes verdeckt, und mal jenes dieses, und denkt darüber nach, ob er sich wohl übergeben muß. Seine Innereien sind ein zusammengewrungenes Knäuel aus Furcht, eine harte Blase, die nicht aufgestochen werden kann.
Am meisten fürchtet er sich vor der Begegnung mit seinen Eltern. Er hat nicht den Mut gehabt, sie anzurufen oder zu ihnen zu gehen, als die Sache passiert ist. Mrs. Springer hat seine Mutter Montag abend angerufen und sie zum Begräbnis gebeten. Das Schweigen, das seine Eltern seitdem zur Antwort gegeben haben, macht ihm angst. Es ist ein Unterschied, ob man von fremden Menschen abgeschrieben wird oder von den eigenen Eltern. Seit er vom Militär zurück ist, hat der Vater einen Groll gegen ihn gehegt, weil er nicht in der Setzerei arbeiten wollte, und irgendwie hat er sich damit im Lauf der Zeit aus Harrys Herzen herausgegrollt. All die Milde und Güte, die der Vater ihm von klein auf entgegengebracht hat, ist zu nichts zerronnen. Mit der Mutter ist es anders gewesen; sie ist immer lebendig gewesen für ihn, immer eng mit seinem Leben verknüpft. Wenn auch sie ihn jetzt abschreibt, dann will er lieber sterben als das hinnehmen. Aber was sollte man sonst mit ihm machen? Was immer Mrs. Springer sagt, es kann ihm gleich sein, denn am Ende muß sie sich ja doch mit ihm abfinden, und außerdem hat er das Gefühl, daß sie ihn ganz gern leiden mögen würde, aber bei seiner
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