Hasenherz
Kostüm anzuprobieren, und als sie so im Unterrock herumläuft, barfuß auf dem Teppich, erinnert sie ihn an das Mädchen, das er einmal gekannt hat: ein Mädchen mit schmalen Fesseln und Handgelenken und einem kleinen scheuen Kopf. Das schwarze Kostüm ist gekauft worden, als sie noch zur Schule ging, und es paßt nicht mehr. Sie ist um den Bauch herum noch zu schwer von der Schwangerschaft. Vielleicht zeigen sich auch schon die ersten Ansätze zur Plumpheit ihrer Mutter, Sie steht da und versucht, den Rock über der Hüfte zusammenzubekommen, ihre Brüste rutschen aus dem Büstenhalter heraus bei dieser Anstrengung und pressen sich zusammen, und eine tiefe dunkle Falte kerbt sich zwischen ihnen ein; ja, sie hat eine gewisse Plumpheit, eine süße Plumpheit, die ihm gefällt. Er denkt: , aber dann richtet sie sich plötzlich gerade auf, und ihr verwischtes, wütendes Gesicht löscht allen Besitzerstolz in ihm aus. Das Verantwortungsgefühl überkommt ihn wieder und vermehrt schmerzlich das schwere Gewicht, das ohnehin auf ihm lastet. Dies ist die wirr-unbeherrschte Frau, die er mit Bedacht eine lebenslange Straße hinauflenken muß, weg vom Gestern. «Es paßt einfach nicht!» schreit sie und reißt sich den Rock herunter und schleu dert ihn, eine große schwirrende Fledermaus, quer durchs Zimmer.
«Hast du nichts anderes?»
«Was soll ich bloß machen!»
«Komm, laß das sein. Wir wollen hier weggehn, zurück zu deinen Eltern. Die Wohnung macht dich nervös.»
«Aber wir müssen hier leben !»
«Ja, aber nicht heute. Komm!»
«Wir können hier nicht leben», sagt sie.
«Ich weiß, daß wir's nicht können.»
«Aber wo können wir dann leben?»
«Wir wollen es überlegen. Komm jetzt.»
Sie steigt unbeholfen in ihren Rock und zieht die Bluse über die Arme und dreht ihm demütig den Rücken zu und sagt: «Knöpf mich bitte hinten zu.» Und er knöpft ihr den rosa Stoff zu, an ihrer stillen Wirbelsäule entlang, und er muß weinen. Heiß steigt es ihm in die Augen, es brennt in den Augen, und er sieht die kleinen Kinderknöpfe durch eine Traube von wässerigen Lichtscheiben, die wie die Blütenblätter einer Apfelblüte sind. Zögernd sammeln sich die Tropfen an seinen Lidern, dann laufen sie ihm die Wangen herab. Die Nässe ist köstlich. Er wünscht sich, er könnte stundenlang so weinen, denn dies winzige Überfließen schon gibt ihm Erleichterung. Aber Männerträ nen sind selten, und die seinen sind versiegt, bevor er mit Janice die Wohnung verlassen hat. Als er die Tür schließt, ist ihm, als sei sein ganzes trockenes Leben über diesem Öffnen und Schließen hinge gangen.
Nelson hat das Gummitier mitgenommen, und jedesmal, wenn er draufdrückt und es quietscht, tut Rabbit der Magen weh. Die Stadt ist jetzt ausgebleicht von einer hohen Mittagssonne.
Janice berichtet ihrer Mutter, was sich zugetragen hat, und Mrs. Springer kramt in ihren Schränken und fördert ein altes schwarzes Kleid zutage, das, so meint sie, passen wird, wenn man es geschickt abnäht und zusammensteckt. Sie geht mit Janice nach oben, und eine halbe Stunde später kommt Janice wieder herunter, ganz in Schwarz.
«Harry. Geht es so einigermaßen?»
«Zum Kuckuck, für was hältst du das Ganze eigentlich? Für eine Modenschau?» Es macht ihn wütend, daß sie die Kleider ihrer Mutter tragen kann. «Du siehst gut darin aus», setzt er reuevoll hinzu, aber der Schaden ist angerichtet. Janice fühlt sich verletzt und bricht oben zusammen, und Mrs. Springer widerruft das kleine Maß an Nachsicht, das sie ihm hat zuteil werden lassen. Durchs Haus zieht wieder in Schwaden die unausgesprochene Meinung, daß er der Mörder ist. Er nimmt diese Meinung willig an; sie ist wahr: er ist der Mörder, er ist es, und Haß gebührt ihm, nicht Vergebung. Er ist überflutet von Haß, ihm bleibt nichts zu tun. Er kann gelähmt werden, und die Gnadenlosigkeit des Hasses, den sie gegen ihn hegen, bildet gleichsam eine Stütze.
Er liest Nelson aus einem Geschichtenbuch vor: von einer kleinen Lokomotive, die Angst vor Tunneln hatte, aber schließlich allen Mut zusammenraffte. Mrs. Springer kommt herein, und das Wort «Essen» schnappt aus ihrem Mund. Harry sagt, er wolle nichts essen, aber dem Beispiel der Geschichte folgend, faßt er sich ein Herz und geht mit in die Küche, um auf Nelson aufzupassen. Mrs. Springer richtet es so ein, daß sie ihm die ganze Zeit den Rücken zukehren kann. Als Nelson fertig ist mit
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