Hasenherz
Echo der Stimme auf ihn, und er öffnet die Augen. Janice steht am Bett in braunem Rock und einer ärmellosen rosa Bluse. Eine graufleischige Verfettung ist unter ihrem Kinn, die er vorher noch nie bemerkt hat. Er wundert sich, daß er auf dem Rücken liegt. Er schläft fast immer auf dem Bauch. Er merkt, daß er geträumt hat, daß er der Welt nichts zu sagen hat, und der Knoten knüpft sich wieder in seiner Brust. Er steht auf und küßt ihre Hand, die hilflos und rauhhäu tig herunterhängt.
Sie macht ihm Frühstück: die Cornflakes ertrinken in Milch, und der Kaffee ist, nach ihrem alten Rezept, eine dünne Brühe. Sie gehen in die Wohnung hinüber mit Nelson, um Kleider zu holen für das Begräbnis. Rabbit verübelt es ihr, daß sie gehen kann, daß sie nicht stirbt vor Reue und Scham. Was für eine Trauer ist das, daß sie auf der Straße gehen können? Daß ihre wohlgepolsterten Leiber sich einfach so dahinbewegen und ihre Herzen mit Dumpfheit und niedrigen Bedürfnissen umge ben, das erbittert ihn. Da gehen sie mit ihrem Sohn durch die Straßen, auf denen sie als Kinder gegangen sind. Der Rinnstein längs der Potter Avenue, in dem das schlickige Wasser von der Eisfabrik herunterkam, ist ganz trocken jetzt. Und die Häuser, in denen größtenteils nicht mehr die Menschen wohnen, die er früher alle vom Sehen gekannt hat, sind wie die Häuser, die an einem Eisenbahnzug vorbeifliegen, mit leeren Ziegelgesichtern, und einem Rätsel zurufen. Warum lebt überhaupt jemand hier? Warum ist ihm dies hier als Platz zugewiesen worden, warum ist für ihn diese Stadt, dieser öde Vorort einer drittrangigen Metropole, Mittelpunkt und Maß für ein Universum, das unendliche Prärien umfaßt, Gebirge, Wüsten, Wälder, Küsten, Städte, Meere? Dies kindische Geheimnis – das Geheimnis , Präludium zum tiefsten Rätsel: – überflutet sein Herz mit Schrec ken. Eine Kälte spannt sich in seinem Körper aus, und er fühlt sich freischwebend, als werde er endlich, was er immer gefürchtet hat, von der Luft getragen. Die Straße mit der zerlumpten Grenzlinie zwischen Bürgersteig und Gras und mit den teerverschmierten, narbigen Tele grafenmasten spricht nicht mehr mit der vertrauten, erregenden Stim me der Kindheit zu ihm. Er ist niemand. Es ist, als sei er aus seinem Körper und Gehirn für einen Augenblick herausgetreten, um zu sehen, wie die Maschine arbeitet, und als habe er damit einen Schritt ins Nichts getan, denn dieses ist nur eine Brechung gewesen, eine Schwingung in der Maschinerie; es gibt keinen Weg mehr zurück. Es kommt ihm so vor, als stehe er hinter den Fenstern der Häuser, an denen sie vorbeige hen und die der dreiköpfigen Familie nachsehen, wie sie so festen Schrittes ihren Weg nimmt und nichts darauf schließen läßt, daß ihr Kosmos aus den Fugen ist – außer vielleicht die stillen Tränen der Frau. Ihre Tränen sind so unmerklich gekommen wie der Tau. Die morgen frischen Straßen scheinen sie ihr entlockt zu haben. Als sie in die Wohnung treten, stöhnt Janice laut und bricht an Rabbits Schulter zusammen. Vielleicht ist sie nicht gefaßt darauf gewesen, daß die Zim mer voller Sonne sind. Streben aus Staub, flirrend in milchigem Licht, steigen schräg von der Mitte des Fußbodens zu den oberen Kanten der Fenster auf und überflimmern alles mit Unschuld, Frische und Zuver sicht. Der Kleiderschrank steht nah an der Flurtür, so brauchen sie vorerst nicht tiefer in die Wohnung hineinzugehen. Er öffnet die Schranktür so weit wie möglich, aber ohne daß sie gegen den Fernseh apparat bumst, taucht den Arm tief hinein, zieht den Reißverschluß eines Plastiküberzugs auf und nimmt seinen blauen Anzug heraus, einen Winteranzug aus Wolle, aber den einzigen dunklen, den er be sitzt. Nelson stolpert durch alle Räume, macht sein Geschäft im Bad, findet einen alten Gummibär in seinem Zimmer, den er unbedingt mitnehmen will. Seine Streifzüge blasen immerhin so viel von der Drohung in den Zimmern weg, daß Rabbit und Janice ins Schlafzim mer zu gehen wagen, wo Janice ihre Garderobe verwahrt. Auf dem Weg dahin zeigt sie auf einen Sessel. «Hier hab ich gesessen», sagt sie, «gestern morgen, und hab zugeguckt, wie die Sonne aufging.» Ihre Stimme ist leblos. Er weiß nicht, was für eine Antwort sie jetzt von ihm erwartet, und so sagt er nichts. Er hält den Atem an.
Im Schlafzimmer gibt es einen hübschen Augenblick. Sie zieht Rock und Bluse aus, um ein altes schwarzes
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