Hasenherz
welche Tür sie nehmen sollen, Mim steht ein wenig abseits. Sie trägt ein zurückhaltendes Kleid und ist ganz ohne Make-up und erinnert Harry an die kleine Schwester, die er einmal gehabt hat. Als er seine Eltern da stehen sieht, weiß er nicht mehr, warum er sich vor ihnen gefürchtet hat.
Seine Mutter tritt als erste durch die Tür. Ihre Augen fegen über die vor ihr postierte Reihe, und dann stürzt sie auf Rabbit zu mit ausgestreckten Armen. «Harry, was haben sie dir getan?» ruft sie laut und hüllt ihn so fest in eine Umarmung, als wollte sie ihn hinwegtragen von hier, zurück in den Himmel, aus dem sie gefallen sind.
Der Augenblick vergeht so schnell, wie er hereingebrochen ist. In einem jungenhaften Reflex von Verlegenheit schiebt Rabbit seine Mut ter von sich weg und reckt sich zu voller Höhe auf. Und als wüßte sie gar nicht, was sie gesagt hat, wendet sie sich Janice zu und schließt sie in ihre Arme. Er ist erleichtert, daß sie die Regeln des Anstandes wahrt und sich normal benimmt. Der Vater drückt Mr. Springer die Hand und murmelt irgend etwas. Mim faßt Rabbit an der Schulter und hockt sich dann zu Nelson hinunter und flüstert mit ihm: die beiden Jüngsten unter ihnen. Harry spürt sie körperlich, diese Verbündung der beiden zu seinen Füßen. Seine Frau und seine Mutter klammern sich immer noch aneinander. Die Mutter hat diese Umarmung rein automatisch inszeniert, aber dann ist ein warmer, lebendiger Strom des Schmerzes von ihr aus hineingeflossen. Ihr Gesicht runzelt sich voller Kummer; Janice ist überrumpelt und sprachlos, aber sie erwidert die Umarmung. Mit kraftlosen, schwarzbeärmelten Armen versucht sie, den mächtigen Leib zu umfangen, der sich gegen sie drängt. Mrs. Angstrom bringt zwei Worte heraus. Die andern sind verlegen, nur Harry von seiner kühlen Höhe aus erkennt: Seine Mutter ist von dem Instinkt getrieben worden, aus dem wir jene umarmen, die wir verletzen, und dann hat sie das Mädchen an ihrem Körper gefühlt, hat es plötzlich als Mit-Nach fahrin einer uralten, schmählich behandelten geknechteten Rasse emp funden, und jäh ist ihr die Einsicht gekommen, daß auch sie, obzwar sie den Sohn gerade wiederbekommen hat, abermals verlassen werden wird.
Rabbit hat im eigenen Herzen diese Stufenleiter der Trauer aufstei gen gefühlt, als ihre Arme sich um Janice schlossen. Jetzt gibt sie sie frei und spricht kummervoll und gesetzt mit den alten Springers. Ihren Ausbruch haben sie ihr als unbeherrschte Trauer durchgehen lassen, denn natürlich haben sie Harry gar nichts getan, alles, was geschehen ist, hat er ihnen angetan. Seine Freisprechung entgeht ihnen freilich. Sie rücken in eine weite Ferne neben ihm. Die Worte, die seine Mutter zu Janice gesprochen hat: «Meine Tochter», verebben. Mim richtet sich aus ihrer Hocke auf. Sein Vater nimmt Nelson auf den Arm. Sacht stoßen sie gegen ihn.
Und unterdessen vollendet Rabbits Herz seinen Turnus und tritt einen neuen an, einen weiter ausholenden, der in ein sich verdünnendes Medium vordringt, das zur Außenwelt immer weniger Beziehung hat.
Eccles trifft ein, er keucht, kommt gerade von irgendeinem Drug store oder einer zerrütteten Familie, und im Gänsemarsch folgen die sieben ihm in den blumengezierten Raum und nehmen ihre Plätze in der vordersten Reihe ein. Eccles steht schwarzvermummt vor dem kleinen weißen Kasten und hält die Trauerrede. Es ärgert Rabbit, daß Eccles sich zwischen ihn und seine Tochter schiebt. Und mit einer merkwürdig tief und weich in ihn eindringenden Schuldspitze durch fährt ihn etwas, worüber niemand bisher ein Wort verloren hat: das Kind ist nicht getauft worden. «Ich bin die Wiederauferstehung und das Leben, sagt der Herr, und wer an mich glaubt, auch im Tod, der wird leben, und wer lebt und an mich glaubt, der wird nicht sterben.»
Diese formellen Worte prallen gegen Harrys Kopf wie plumpe schwarze Vögel. Aber er spürt, daß eine Wahrheit in ihnen liegt. Eccles spürt es nicht. Sein Gesicht ist trocken und ernst und angespannt. Seine Stimme klingt falsch. Alle diese Menschen wirken falsch: außer seiner toten Tochter im weißen Kasten mit den goldenen Verzierungen.
«Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, er wird die Lämmer in seine Arme sammeln und an seinem Busen tragen.
Hirte, Lamm, Arme: Harrys Augen füllen sich mit Tränen. Es ist, als seien die Tränen rings um ihn ein Meer, und als steige das salzige Wasser in seine Augen. Seine Tochter ist tot; June hat ihn
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