Hassbluete
fürsorglichen Stiefvaters vorgespielt.
Lisa lehnte sich über die Brüstung, das Handtuch lag über dem Balkonstuhl.
»Noch ein bisschen weiter«, sagte Wolfgang.
Das war Wahnsinn. Nein, mach’s nicht!, rief ich ihr in Gedanken zu.
Sie beugte sich noch weiter nach vorn.
»Ich stell mich jetzt hinter dich.« Wolfgang tat es und versperrte mir mit seinem Rücken die Sicht.
»Wie ist das?«
»Ich hab Angst.«
»Vor mir?«
»Auch.«
»Ich halte dich jetzt an den Beinen fest. Diesen Teil hat Robin immer am liebsten gemocht«, kündigte er an.
»Du hast das auch mit Robin gemacht?«
»Das ging schneller, als erst Wasser in die Wanne laufen zu lassen.«
»Bitte«, flüsterte Lisa. »Lass mich sofort runter.« Warum flüsterte sie? Damit keiner von den Nachbarn etwas mitbekam?
Ich konnte nicht sehen, ob Wolfgang sie auf den Balkon zurückholte.
»Bitte«, flehte sie.
»Erst musst du mir versprechen, dass du mich nicht im Stich lässt?«
»Wie meinst du das?«, fragte sie zurück.
»Dass du mich nicht verlässt.«
»Lass mich erst runter«, forderte sie.
»Also wirst du mich allein lassen? So wie Robin?« Traurigkeit lag in seiner Stimme, als ob er gleich anfangen würde zu weinen.
»Was soll das heißen?«
Pause, Geräusche. Hatte er sie zurückgeholt?
Mit gepresster Stimme fuhr Wolfgang fort: »Erst hat Robin versucht, die Lampe zu reparieren. Aber das war nur ein Trick, um mich auf den Balkon zu lotsen. In Wahrheit wollte er nämlich den Spieß umdrehen und diesmal ein Spiel mit mir spielen.«
»Was für ein Spiel?«
»Er wollte abhauen.«
»Wohin wollte er denn? Zu seinem Vater?« Ihre Stimme war jetzt kräftiger, sie klang nicht mehr so, als würde sie über dem Geländer hängen und sich nicht mehr halten können.
Wolfgang lachte krächzend. »Ich glaube, es war ein Versehen, ich hoffe es zumindest. Plötzlich drohte er runterzufallen. Ich hab noch versucht, ihn festzuhalten. Er war doch mein Ein und Alles.«
»Du warst dabei!? Du warst dabei und hast ihn fallen lassen!? Du hast ihn umgebracht!«
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
»Weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe!«, klagte Wolfgang. »Damit muss ich erst mal fertig werden. Es tut mir so leid. Ich habe versagt, total versagt.«
Ich schwankte. War es wirklich ein Unfall gewesen? Ein Versehen? Selbst wenn, war es dann nicht die gerechte Strafe für seine sadistischen Spielchen, die er mit Robin gespielt hatte? Aber den Preis für diese Strafe hatte natürlich Robin bezahlt – mit seinem Leben.
Lisa war fassungslos, verlor aber immer noch nicht die Beherrschung. Mit leiser Stimme sprach sie weiter: »Was war hier wirklich los? Wie kommst du darauf, dass es vielleicht kein Versehen gewesen sein könnte?«
»Vielleicht war er eifersüchtig auf mich!? Was hat diese Helen von der Telefonseelsorge gesagt? Du wolltest meinetwegen ein Kind, du bist meinetwegen so viel arbeiten gegangen, hattest so wenig Zeit für ihn … Er wollte vielleicht einfach nicht mehr. Ich weiß es nicht.«
Lisa ignorierte diesen Vorwurf: »Warum hast du nie gesagt, dass du hier warst!?«
»Ich hatte wie du Angst, man könnte mich verdächtigen.«
Einen Moment herrschte Stille.
»Du ekelst mich an«, sagte Lisa plötzlich völlig unvermittelt.
»Was soll das heißen?« Er wirkte irritiert, aber seine Stimme war kalt geworden.
Ich hatte plötzlich totale Panik, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte. Ohne noch weiter zu überlegen, stürzte ich durchs Wohnzimmer auf den Balkon.
»Michelle!«, rief Wolfgang perplex.
Ich klammerte mich an Lisa fest, umfasste sie mit beiden Armen.
»Michelle!«, sagte jetzt auch sie. »Wie kommst du hier rein?«
»Die Tür war nicht richtig zu«, schwindelte ich. Lisa strich mir über die Stirn.
»Ich nehm an, du hast alles gehört?«, fragte mich Wolfgang jetzt überraschend ruhig.
Ich nickte nur. Lisa strich mir immer noch über den Kopf. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lisa löste sanft meine Arme und führte mich hinein. Wir gingen ins Wohnzimmer zurück. Wolfgang holte das Telefon aus der Ladestation im Flur, stellte sich vor uns hin und wählte eine kurze Nummer. Rief er jetzt meine Mutter an, damit sie mich abholte?
Doch dann traute ich meinen Ohren nicht.
»Wolfgang Richter. Ist da die Polizei!?« Er sah uns forschend an.
Würde er jetzt Lisa verraten mit ihrem falschen Alibi? Und versuchen, den Verdacht auf sie zu lenken?
»Ich möchte mich stellen. Mein Stiefsohn ist bei einem
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