Hasstament
bekommen habe, noch bevor ich etwas gesagt hatte, ist mir ein Ruf vorausgeeilt, den ich überhaupt nicht haben wollte. Ich wollte nicht »der Aufklärer« oder der »Entnazifizierer« oder »Tabubrecher« oder »Provokateur« sein. Ich wollte eine Reise in mich selbst machen und Facetten an mir entdecken, die ich vorher noch nicht kannte. Deswegen war es auch spannend, in ehemaligen KZs zu spielen und zu schauen, wie dort die Leute damit umgehen.
In der zuweilen sensationslüsternen Verbreitung durch die Medien hat das dann aber auch etwas sehr Profanes hinterlassen. »Da fährt ein Türke in den Osten und liest aus »Mein Kampf« und »Guckt mal, der führt die bösen Nazis vor«. Das wollte ich aber gar nicht, ich wollte vielleicht nur mit denen sprechen und vielleicht fand ich es sogar manchmal gut, was die gesagt haben. Es war viel spannender für mich, herauszufinden, warum ich plötzlich den Nazi vielleicht viel sympathischer fand als den Antifaschisten, den ich unsympathisch und verkrampft fand.
Die spannende Frage war aber doch, warum kennt man das nicht, was man doch seit gut 60 Jahren eigentlich kennen müsste. In den meisten Debatten, die geführt werden – und das sind meist Schlussstrichdebatten –, geht es um die Verarbeitung von Schuld, aber nicht um die Betrachtung der Schuld. Es geht um ein adäquates Zeitmaß zur Bewältigung von Schuld. Mein Ansatz war anders: Ich habe »Mein Kampf« als Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung genommen. Denn die meisten kennen das Buch nicht und deshalb habe ich die Frage gestellt, warum sie das Buch nicht kennen. Die Antwort reduzierte sich oft darauf, dass man es nicht durfte. Und gleichzeitig unterstellte man mir, dass ich mich indirekt für eine Publikation von »Mein Kampf« einsetzen würde.
Im nächsten Schritt habe ich mir überlegt, einen Text zu suchen, der frei publiziert war, und die gleiche Frage noch einmal zu stellen. So kam ich auf die »Sportpalastrede« von Joseph Goebbels, denn die konnte man jederzeit frei nachlesen. Fakt war aber, dass auch diese niemand gelesen hatte. Dahinter schien also doch zu stecken, dass sie auch niemand lesen wollte. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten schien sekundär zu sein, die Auseinandersetzung mit den Affekten der Ideologie war für viele interessanter, ob sie die Inhalte nun kennen oder nicht. Für mich aber war die Frage wichtig, warum diese beiden Teile nicht miteinander verbunden waren. Und das Spannende blieb, ob man durch die Verbindung der beiden Teile hätte erreichen können, dass die Ideologie ihre Anziehung verliert.
Und genau das war der Fall: Wenn ich Nazis die »Sportpalastrede« vorlas, hatte das viel mehr Effekt als wenn ich ihnen ständig gesagt hätte: »Das ist schlecht, was ihr tut.« Plötzlich war ein Diskurs zwischen mir und Nazis möglich, der sehr fruchtbar war. Dieser Dialog ist elementar. Ich bin daher z. B. auch strikt gegen das kategorische Aussperren von Nazis bei öffentlichen Veranstaltungen, wie das etwa bei meiner Tour gegen Rechts mit Claudia Roth oft der Fall war. Ich habe bei jeder Veranstaltung darauf bestanden, dass das Mikro auch dorthin gehalten wurde, wo die Nazis stehen. In Anklam bin ich sogar direkt auf einen der 120 anwesenden Nazis mit dem Mikro zugegangen. Danach haben mir Anklamer Bürger gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein echter Diskurs stattgefunden hat zwischen den Anklamer Bürgern und denen von der NPD.
Danach dachte ich, die Richtung wird nun zu einseitig. Wenn ich jetzt jedes Jahr ein neues Programm gegen Nazis mache, dann werde ich irgendwann so eine Art Chefankläger gegen Rechtsradikale in Deutschland. Das ist aber nicht meine Aufgabe, ich bin Theatermensch und spreche eben über Themen, aber ich muss sie nicht ständig transportieren können. Nachdem das Thema »Rechtsradikalismus« im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein schien, konnte ich jetzt darauf verzichten.
Für mich war dies dann der Zeitpunkt, meine eigenen Landsleute in Frage zu stellen, weil diese nie in Vorstellungen präsent waren, wo ich sie eigentlich gebraucht hätte. Es wäre doch eine Steilvorlage für alle in Deutschland lebenden Türken gewesen, in meine Vorstellungen zu kommen und mich vor den Angriffen der Nazis in Schutz zu nehmen und Flagge zu zeigen. Das ist aber nicht passiert. Und auch die folgende Auseinandersetzung mit den Marotten der eigenen Landsleute war katastrophal. Letztendlich haben diejenigen, die am meisten von der
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