Hastings House
Irland eingewandert. Ihr Vater – ein O’Brien – entstammte einer langen Reihe hart schuftender Lohnarbeiter, die um 1840 in die USA gekommen waren. Mit Schweiß und Muskelkraft hatte er es in seinem Fach weit gebracht, und so war aus dem mäßigen doch noch ein ansehnliches Familienvermögen geworden. Dann hatte Eileen O’Brien einen wohlhabenden Mann geheiratet, den mittlerweile verstorbenen Senator und Baumagnaten Thomas Brideswell.
Sie schob ihm ein großformatiges Foto einer jungen Frau über den Tisch, die ihr verblüffend ähnlich sah. Genevieve O’Brien hatte große blaue Augen und wirkte genauso schlank wie ihre Tante Eileen. Ihr Gesicht war wunderschön geschnitten, und ihr dunkles Haar glänzte kastanienfarben. Der Fotograf hatte ihr Lachen, ihren Eifer und den jugendlichen Optimismus perfekt eingefangen.
“Wie alt ist dieses Foto?”, fragte Joe.
“Es wurde vor etwa zweieinhalb Jahren aufgenommen”, antwortete Eileen und stockte. Von Traurigkeit erfüllt senkte sie ihren Blick. “Unmittelbar bevor sie sich mit meinem Bruder Donald und mir zerstritt.”
Joe schüttelte den Kopf. “Tut mir leid. Ich will keine alten Wunden aufreißen, aber ich muss die Zusammenhänge verstehen. Wenn sie aus freien Stücken von zu Hause wegging und Sie beide sich bereits entfremdet hatten, wieso sind Sie dann davon überzeugt, ihr sei etwas zugestoßen?”
“Donald starb, kurz nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte”, erklärte Eileen seufzend. “Zu seiner Beerdigung kam Genevieve noch zurück, aber sie wollte sich weiterhin von meiner – wie sie es nannte – lächerlichen Hingabe an eine ebenso lächerlich dysfunktionale Familie distanzieren. Ich glaube, sie war außer sich, weil mein Bruder starb, ohne dass die beiden Frieden hatten schließen können. Aber …” Hilflos hob sie ihre mit Edelsteinen geschmückten Hände. “Ich würde sagen, es war alles andere als schön, im Haushalt meines Bruders aufzuwachsen. Mein Vater und mein Großvater haben viel erreicht, doch der Preis dafür war hoch. Unmögliche Erwartungen an die Kinder. Immer wurde nach einem Schuldigen gesucht, wenn etwas falsch lief.” Sie schüttelte den Kopf, und es rührte Joe zu sehen, wie aufgewühlt sie war. Trotz ihrer Reserviertheit und ihrer Eleganz konnte diese Frau ihre große Traurigkeit nicht völlig überspielen. Schließlich schaute sie ihm wieder in die Augen. “Seit dem Tod meines Bruders rief sie mich alle zwei Wochen mindestens einmal an, doch jetzt habe ich seit über einem Monat nichts mehr von ihr gehört.”
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. In den Jahren bei der Polizei hatte er einiges gelernt, und noch mehr in der Zeit seiner Selbstständigkeit, und so wusste er, dass der Gesichtsausdruck eines Menschen in einem Gespräch mindestens genauso wichtig war wie die Worte, die er sprach.
“Ist bei Ihrem letzten Telefonat irgendetwas angesprochen worden, das die Kluft zwischen Ihnen vertieft haben könnte?”, fragte er.
Für einen winzigen Moment zögerte sie, dann antwortete sie: “Nein.”
Sie log ihn an.
“Ich muss alles erfahren”, sagte er mit Nachdruck.
Wieder machte sie eine fahrige Geste mit der Hand. “Nun ja, es gab da diesen schrecklichen Artikel über unsere Familie in einem von diesen Klatschblättern”, erwiderte sie.
“Und?”
“Sie war davon überzeugt, ihr Vater sei gar nicht ihr leiblicher Vater.”
“Sie ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich darf annehmen, dass Sie und Ihr Bruder sich ähnlich sahen.”
“Sehr sogar”, bestätigte Eileen.
Er wartete ein paar Sekunden lang. “Was für eine Zeitung war das? Wann ist der Artikel erschienen?”
“Diesen Dreck wollen Sie ganz bestimmt nicht lesen”, versicherte sie ihm.
“Ich muss den Artikel lesen, Mrs. Brideswell. Ich tappe völlig im Dunkeln. Ihre Nichte ist sechsundzwanzig, sie ist erwachsen. Wenn ein Erwachsener nicht gefunden werden will, dann ist das sein gutes Recht. Ich habe so gut wie keine Anhaltspunkte. Sie haben mir die Vornamen und Adressen von ein paar Bekannten gegeben, außerdem kenne ich Namen und Anschrift ihres letzten Arbeitgebers – nur dass sie da schon vor einem Monat gekündigt hat. Das kann man bereits als Hinweis darauf deuten, dass sie vorhatte, die Stadt zu verlassen. Und ich habe die Adressen, von denen Sie glauben, dass sie sich dort aufgehalten hat. Sie sollten mir nichts verschweigen, wenn Sie wollen, dass ich sie finde. Aber selbst wenn ich sie finden sollte, kann
Weitere Kostenlose Bücher