Hauch der Verfuehrung
er genoss.
Sie fesselte seine Sinne; es gab so viel über sie zu erfahren - kurz: Sie faszinierte ihn!
Er war sich vage bewusst, dass diese Faszination der ähnelte, die Frauen auf ihn ausübten, die weniger sein künstlerisches, sondern eher sein sexuelles Interesse erregten. Doch da Jacqueline Tregonning die erste Frau war, die er malen wollte und die zugleich nicht irgendwie mit ihm verwandt war, wusste er nicht recht, ob das nicht zu erwarten gewesen war. Er sah Frauen so, wie sie waren, als eigenständige Wesen - das war einer der Gründe für den Erfolg seiner Bilder.
Mit Jacqueline Tregonning hatte er eine Goldader getroffen - ein Modell, das Tiefe besaß, mehrere Lagen von Gefühlen und Empfindungen, Sorgen und Bedenken, und das alles hinter einem Gesicht, das allein schon berückend war. Nur ein Blick in ihre wunderschönen Augen, und er wusste, was er vor sich hatte: ein Modell, das exakt besaß, was er benötigte, um ein echtes Kunstwerk zu erschaffen. Sie war ihm ein Rätsel.
Sie war zu jung, um so zu sein, wie sie war. Damen ihres Alters besaßen gewöhnlich nicht solche Tiefe oder gar verborgene Tiefen; sie hatten einfach nicht lange genug gelebt, hatten nicht genug menschliche Tragödien erfahren, um zu dieser inneren Reife zu gelangen. Dennoch verkörperte Jacqueline Tregonning das Sprichwort: »Stille Wasser sind tief.« Sie war ruhig und gelassen - wie ein tiefer Teich: An der Oberfläche ganz glatt, doch darunter gab es starke Strömungen, heftige Gefühle.
Woraus diese Gefühle bestanden, was sie ausgelöst hatte, sie so hatte werden lassen, wie sie war, davon hatte er keine Ahnung. Doch er würde die Antwort darauf erfahren und auch sonst alles über sie - um all das in seinem Bild einzufangen, was er in ihren Augen lesen konnte, was er hinter ihrer beherrschten Miene zu spüren meinte.
Er blieb an ihrer Seite, während sie mit allen Anwesenden sprachen; bei jedem beobachtete er sie, prägte sich ihre Reaktion ein, was er als ihre wahren Gefühle spürte. Zurückhaltung, Abstand, nicht zu nahekommen. Ihr Verhalten war so beständig, so faszinierend, dass er die Worte im Geiste immer wieder hörte. Es war keine Schüchternheit; sie wirkte überhaupt nicht schüchtern. Sie fühlte sich kein bisschen unbehaglich, sondern war selbstsicher; sie befand sich in ihrem Zuhause und unter Leuten, die sie - wie er annahm - ihr ganzes Leben lang kannte. Aber sie vertraute ihnen nicht.
Keinem Einzigen - mit Ausnahme ihrer Tante Millicent.
Er verarbeitete das, als er langsame Schritte vernahm und das dumpfe Klopfen eines Gehstockes. Er drehte sich wie alle anderen um, als ein älterer Herr über die Türschwelle trat. Der Mann erspähte ihn, musterte ihn und kam dann auf ihn zu, langsam; aber seine Bewegungen waren nicht gebrechlich oder schwerfällig, sondern bemessen.
Marcus, Lord Tregonning, war ein Gentleman der alten Schule. Gerrard erkannte die äußeren Anzeichen - der altmodische Schnitt seines Rockes, die Kniehosen, der bewusst gemächliche Gang, der Stock, den er nicht wirklich benötigte, die Tatsache, dass er außer der Person in seinem Blickfeld niemand anderen auch nur mit einem Wimpernzucken zur Kenntnis nahm.
Und diese Person war er. Er war dankbar für die Disziplin, die ihm Vane und Gabriel Cynster beigebracht hatten, die Fähigkeit, eine ausdruckslose Miene zu bewahren und -in diesem Fall - den Drang zu lächeln zu besiegen. Weder er noch Barnaby würden sich einfach so von dem einschüchternden Gehabe ihrer Vorfahren beeindrucken lassen.
Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, dass Barnaby mit einem Grinsen kämpfte - einem anerkennenden, auch wenn Seine Lordschaft das wohl nicht so sehen würde. Sie waren schließlich Gäste im Hause dieses Mannes, und hier standen sie, fast wie Raubtiere, von völlig anderem Kaliber als die anderen anwesenden Männer, jung und in der Blüte ihrer Jahre im Revier des alten Löwen.
Lord Tregonnings dunkle Augen ruhten scharfsinnig, ja abschätzend auf ihm - fast noch kritischer als die seiner Tochter vorhin. Sein Gesicht war blass, von tiefen Falten durchzogen - Falten des Grams. Sein Haar war noch dicht und dunkel, seine Augen halb von den Lidern verborgen und tief eingesunken; er hielt sich sehr aufrecht. Die Hand auf dem Knauf des Stockes war vom Alter gezeichnet, die Haut fleckig, doch sein Griff verriet kein Anzeichen von Schwäche. Das Wort, das sich Gerrard im Zusammenhang mit ihm aufdrängte, war »verhärmt«, aber dennoch ebenso stolz
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