Hauch der Verfuehrung
war er von draußen nicht zu sehen. Und wer auch immer der Schütze war, derjenige wollte natürlich auch auf keinen Fall gesehen werden. Was wiederum hieß, dass sie sich kannten.
Gerrard blieb am Wasserbecken in der Mitte der Grotte stehen, die sich am hinteren Ende des Gartens befand und halb unter der Terrasse lag. Er fühlte sich merkwürdig. Wie durch einen Schleier von der Umwelt getrennt. Es bestand kein Zweifel: Hätte er sich nicht gebückt, um den Spross zu untersuchen, dann hätte der Pfeil ihn in den Rücken getroffen.
Wäre er davon gestorben? Möglicherweise. Es bestand auf jeden Fall die Chance, dass er seine Fähigkeit zu malen verloren hätte - was für ihn vielleicht sogar noch schlimmer war als der Tod.
Ihm war kalt bis auf die Knochen. Er drehte er sich um und setzte sich auf die Steinumrandung des Beckens. Mit den Ellbogen stützte er sich auf die Knie und betrachtete den Pfeil, drehte ihn zwischen seinen Händen hin und her. Er war gut gemacht, war kenntnisreich mit Federn versehen und besaß eine scharfe Spitze, die sich durch seine Muskeln gebohrt hätte. Jedenfalls wäre der Pfeil tief in ihm stecken geblieben. Es war die Sorte Pfeilspitze, mit der man Wild erlegen konnte.
Er schob das Kinn vor. Er war sich sicher, dass Barnaby niemanden sehen würde - oder gar stellen könnte. Der Pfeil konnte aus größerer Entfernung abgeschossen worden sein, irgendwo von der Anhöhe im Norden. Dennoch ... er wartete auf Barnabys Rückkehr.
Sein Blick wanderte über die Lichtung vor ihm, den Mittelpunkt des Gartens der Nacht. Die Grotte hinter ihm war der interessanteste Punkt und zog den Blick auf sich. Der Bach speiste das Wasserbecken, dann verlief er unterirdisch unter der Lichtung zu dem gewundenen Weg, sodann in einem felsigen Areal daneben entlang, bis er schließlich dort ans Sonnenlicht trat, wo der Pfad in den Garten des Poseidon mündete.
Ohne es bewusst geplant zu haben, nahm er die Linien und Formen wahr, schätzte in Gedanken Entfernungen ab. Vor seinem geistigen Auge entstand eine Geländekarte des Gartens, wie der Planer ihn entworfen hatte. Während er auf der Umrandung saß und den Pfeil in den Fingern drehte, schaute er über die Lichtung ... und runzelte die Stirn.
Der Harmonie wegen hätte dort etwas sein müssen -eine Statue in einem Alkoven oder dergleichen. Stattdessen fand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Wasserbeckens nur ein dichtes Gewirr wuchernder Kletterpflanzen ... oder?
Er stand auf und ging hin, um sie sich genauer anzusehen. Sobald er näher vor dem Rankenwerk stand, erkannte er, dass es in Wahrheit zwei kleine Trauerweiden waren, deren Kronen überwuchert waren. Es war ein Leichtes, den natürlichen Vorhang beiseitezuschieben und einen Blick dahinter zu werfen ... auf etwas, das eindeutig als hübsche Laube gedacht war, in der man sitzen und die Fontäne in dem Wasserbecken betrachten konnte.
Gerrard blickte vor und zurück, prüfte die Winkel. Er war sich sicher, dass er recht hatte. So hatte der ursprüngliche Entwurf ausgesehen - jetzt allerdings waren die Kletterpflanzen gewuchert und hatten die Laube zu einem grünen Zimmer gemacht, verborgen und geheim - und es wurde benutzt.
Das Moos, das dort einmal gepflanzt worden war, war längst vertrocknet, aber es gab ein dickes Strohlager, das mit weichem, getrocknetem Moos und mit getrockneten Blumen, Lavendel und anderen Kräutern bedeckt war.
Ein Platz für ein geheimes Stelldichein.
Die Blumen und Kräuter erschienen nicht so alt, die dicke Moosschicht war erst kürzlich niedergedrückt worden.
Schritte tönten auf dem Weg, kamen näher. Barnaby.
Gerrard ließ den Rankenvorhang fallen. Er konnte erraten, wer die Laube für Verabredungen im Dunkeln mit ihrem Geliebten benutzte.
Barnaby trat durch den Bogen. Er verzog das Gesicht. »Kein Glück.«
Gerrards Lippen zuckten. »Das war auch nicht zu erwarten.«
»Leider.« Barnaby kam zum Wasserbecken und setzte sich. Als Gerrard zu ihm ging, streckte er die Hand nach dem Pfeil aus; Gerrard reichte ihn ihm.
Barnaby untersuchte ihn, und seine Miene verfinsterte sich dabei ständig. »Ich erkenne da ein Muster.«
»All diejenigen, die der Mörder zum Opfer erwählt hat, haben ...« Gerrard beendete den Satz nicht.
»Jacqueline geliebt?« Die Pfeilspitze genauer betrachtend, nickte Barnaby. »Stimmt, aber ich denke, das ist es nicht -oder jedenfalls nicht alles, was dahintersteckt.«
Gerrard ließ Barnabys Satzende gelten; ihm zu widersprechen
Weitere Kostenlose Bücher