Hauch der Verfuehrung
mondäne Leben kennenzulernen.
Ihr wurde schier schwindelig bei der Vorstellung, was alles passieren könnte. Sie und Millicent hatten viel zu tun mit der Vorbereitung der Reise und ihres Aufenthalts, und das alles in nur anderthalb Tagen, mehr Zeit hatten ihr Vater und Gerrard ihnen nicht gegeben. Sie waren eben Männer und schienen nicht zu begreifen, wie lange es dauerte, Kleidung durchzusehen, auszubürsten und zusammenzulegen, Hüte auszusuchen und zu verstauen, zusätzlich noch Schuhe, Handschuhe, Schals, Retiküls, Strümpfe, Schmuck und all die anderen unverzichtbaren Accessoires, ohne die man in der Stadt nicht bestehen konnte.
Wozu sie und Millicent fest entschlossen waren. Sie würden unweigerlich wenigstens ein paar Mitglieder von Gerrards vornehmer Verwandtschaft treffen. Und sie wollten keinesfalls wie Landpomeranzen erscheinen - nicht, wenn sie es verhindern konnten.
Und dann musste noch der Haushalt geregelt werden.
Jacqueline war beinahe froh, dass sich Gerrard in seinem behelfsmäßigen Atelier im alten Kinderzimmer praktisch vergraben hatte. Nach der Nachricht über die bevorstehende Reise tauchte er nicht wieder auf, nicht zum Dinner und auch nicht zum Frühstück, ebenso wenig zum Lunch am folgenden Tag.
Natürlich besuchte sie ihn nachts in seinem Schlafzimmer. In der ersten Nacht, als sie sein Zimmer leer vorgefunden hatte, war sie leise die Treppe zum Atelier hinaufgeschlichen.
Vorsichtig hatte sie die Tür zum ehemaligen Kinderzimmer geöffnet. Die Nacht war warm und drückend. Nur mit Hosen bekleidet und barfuß stand er vor der Leinwand. Dann aber hatte er zu ihr gesehen. Wie früher schon spürte sie, wie sich seine Konzentration auf sie verlagerte - sie konnte ihn ablenken. Bei dem Gedanken musste sie sich ein Lächeln weiblicher Zufriedenheit verkneifen.
Sie war eingetreten und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Er war sich mit den Fingern durchs Haar gefahren; als sie zu ihm kam, hatte er die Farbpalette weggelegt. Und sich zu ihr umgedreht.
Später hatte sie auf der Bank vor dem Fenster gelegen und war immer wieder kurz eingenickt. Zum Schutz ihrer erhitzten Haut vor der kühlen Luft hatte er sie mit ihrem Morgenrock und seinem Hemd zugedeckt. Sie hatte ihm beim Malen zugesehen, das Spiel seiner Muskeln im Schein der sechs Lampen bewundert, die brannten, um ihm Licht für seine Arbeit zu spenden.
Jetzt galt seine Konzentration wieder voll und ganz seiner Kunst.
Es war dieselbe Intensität, die er in ihr Liebesspiel mit einbrachte, aber da sie die Empfängerin und Nutznießerin war, konnte sie nicht unbeteiligt beobachten. Als sie ihm so beim Malen so zusah, durchlief sie ein wohliger Schauer.
Wenn sie zusammen waren, dann gehörte all das ihr.
Er war zu ihr zurückgekehrt, als der Himmel sich am Horizont mit dem ersten Morgenlicht aufhellte, hatte sie geweckt in den zarten Pastellfarben des Morgengrauens. Wäh-rend sie seinen Anweisungen folgte und ihn liebte, hatte sie den Schimmer des Morgenrots auf dem Meer in just jenem Moment gesehen, als er sie zum Höhepunkt brachte.
Später war sie dann gegangen, hatte ihn schlafen lassen.
An dem Tag ward er nicht gesehen.
Sie passte Compton auf dem Flur ab, der sie ins Bild setzte: Wenn sein Herr so besessen malte, schlief er oft den Vormittag über, solange das Licht nicht intensiv genug war; dann wachte er meist gegen Mittag auf, um wieder zum Pinsel zu greifen. Jacqueline hatte Compton daraufhin aufgetragen, dafür zu sorgen, dass immer ein Imbiss und Getränke bereitstanden und - wenn möglich - auch verzehrt wurden. Dann hatte sie sich wieder ihren zahllosen Aufgaben im Vorfeld der Abreise gewidmet.
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Eleanor zu einem ihrer Spaziergänge auftauchen würde, sodass sie ihr dabei von der Reise erzählen könnte. Aber sie kam nicht. Als ihr das letzte Gespräch mit ihr einfiel, zuckte Jacqueline nur die Achseln. Sie und Eleanor hatten sich schon früher zerstritten, immer wegen etwas, das Eleanor getan hatte; irgendwann kam Eleanor dann wieder, entschuldigte sich allerdings nie.
Also würde Eleanor erst nach ihrem Aufbruch von der Reise nach London erfahren.
Am folgenden Morgen um Punkt acht Uhr brachte Gerrard Millicent und Jacqueline zur Reisekutsche ihres Vaters. Die vier Pferde, die angespannt worden waren, stampften ungeduldig; das Zaumzeug klirrte leise, als der Kutscher auf den Bock stieg. Ihr Vater, der neben der Kutsche wartete, küsste seine Tochter auf die Wange.
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