Hauch der Verfuehrung
halblaut.
»Morgen!«, antwortete er mit gedämpfter Stimme und lief weiter.
Gerrard erreichte den Flur und spähte hinein. Er war leer - ein weiterer Korridor öffnete sich am Ende des Ganges nach rechts. Er eilte ihn entlang, lugte vorsichtig um die Ecke - und sah Jacqueline vor einer Tür stehen. Sie sprach mit Millicent, die nickte und dann weiterging. Jacqueline öffnete die Zimmertür und trat ein. Er hielt sich am Rand und beobachtete, wie Millicents dunkle Gestalt von den Schatten verschluckt wurde. Doch schließlich blieb auch sie stehen und betrat ein Zimmer. Er wartete, bis er das leise Einrasten des Schlosses gehört hatte, dann ging er den Flur entlang.
Als er an Jacquelines Tür ankam, klopfte er an, zweimal, kurz und bestimmt, aber nicht laut.
Einen Moment später öffnete sich die Tür. Eine kleine Zofe stand da und starrte ihn verwundert an.
Gerrard sah sie an, dann an ihr vorbei.
»Holly? Wer ist es?«
Hollys Augen wurden groß. »Es ist... äh ...«
Jacqueline kam in der Zimmermitte in Sicht. Sie hatte ihren Schmuck abgelegt, musste aber noch ihr Haar lösen. Auch sie schaute ihn mit großen Augen an.
Gerrard ignorierte die Zofe und winkte Jacqueline herrisch zu sich. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Sein Tonfall warnte sie - es war ihm bitterernst; um einen Walzer im Mondenschein ging es hier nicht.
Sie blickte ihm in die Augen, und ihre Miene wurde vorsichtig. Sie kam zur Tür.
Die kleine Zofe duckte sich, zog sich zurück. Jacqueline legte eine Hand auf den Türrahmen und erkundigte sich: »Sie müssen mit mir reden - jetzt?«
»Ja, jetzt.« Er griff nach ihrer Hand, schlang seine Finger um sie. Er sah die Zofe an. »Warte hier - deine Herrin wird jeden Moment wieder zurück sein.«
Er zog Jacqueline über die Türschwelle. Sie machte den Mund auf. Aber er sandte ihr einen unverhohlen aufgebrachten Blick, der sie verblüffte und klugerweise bewog, lieber zu schweigen. Ohne viele Umstände zu machen, hielt er sie weiter fest und zwang sie so, mit ihm zu kommen. Sie gelangten aus dem Korridor zurück auf die Galerie, dann über eine Nebentreppe direkt auf die Terrasse.
Neben dem Salon traten sie ins Freie, gegenüber der Haupttreppe zu den Gärten; er zog sie zu dem Weg, der in den Garten der Nacht führte.
»Nein!« Jacqueline begann sich gegen seinen Griff zu wehren. »Nicht in den Garten der Nacht.«
Er schaute ihr ins Gesicht. »War es Nacht, als Ihre Mutter starb?«
Sie blinzelte überrascht; ein Augenblick verstrich, ehe sie sagte: »Nein. Es war irgendwann am späten Nachmittag oder frühen Abend.«
Er runzelte die Stirn. »Sie sind sich nicht sicher, wann?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie wurde später am Abend gefunden.«
Er sah den Schmerz in ihren Zügen, die schlimmen Erinnerungen; ihre Augen wurden dunkler. Er nickte knapp, führe sie aber gnadenlos weiter - an der Treppe vorbei auf die Terrasse.
Sie ging jetzt freiwillig mit. »Wohin bringen Sie mich?«
»An eine Stelle, die verhältnismäßig weit und offen ist.«
Wo sie gut zu sehen waren für jeden, der aus dem Fenster schaute, aber außer Hörweite des Hauses wären - ungestört, jedoch nicht vor den Blicken anderer verborgen, nicht versteckt. Ein Ort, der zumindest ein bisschen die Unzüchtigkeit seines Handelns mindern würde, dass er mitten in der Nacht allein mit ihr redete.
»Der Garten der Athene bietet sich an.« Der streng formale Garten, der am wenigstens verführerisch wirkte. Denn Verführung war eindeutig das Letzte, was er momentan im Sinn hatte.
Und der letzte Rest Vernunft sollte nicht so leicht flöten gehen.
Jacqueline fügte sich in ihr Schicksal und folgte ihm über die Terrasse, raffte ihre Röcke, als er mit ihr im Schlepptau die Stufen in den Garten der Athene hinabstieg. Der eine Blick, den er ihr zugeworfen hatte, als sie hatte protestieren wollen, war ausreichend gewesen, um ihr zu versichern, dass es klug wäre zu tun, was er wollte - und es war müßig zu überlegen, was in ihn gefahren war. Eindeutig hatte er vom Tod ihrer Mutter gehört - wie viel und was, das würde sie sicherlich gleich herausfinden.
Trotz der Spannung in ihm, unterdrückter Wut, daran zweifelte sie nicht, und trotz seines barschen Tones - trotz der Kraft seiner Finger um ihre Hand - verspürte sie nicht den geringsten Anflug von Sorge; sie ließ sich von ihm mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer und dem Haus in den Garten schleppen.
Es war allerdings, um der Wahrheit Ehre zu geben, nicht wirklich dunkel.
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