Hauch der Verfuehrung
habe Sie eingehend beobachtet, wenn auch kaum einmal zwei Tage lang. Was ich gesehen habe, sind alle möglichen Gefühle, kompliziert und komplex, aber von Bosheit habe ich keine Spur zu entdecken vermocht.«
Nach einem Moment fügte er hinzu: »Das wäre aber der Fall, insofern es sie gäbe. Was ich dagegen sehe, ist etwas völlig anderes.«
Seine Stimme war leiser, sanfter geworden. Genug, dass sie das Gefühl hatte, fragen zu können: »Was sehen Sie?«
Vielleicht zehn langsame Herzschläge lang schaute er sie an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht gut mit Worten - ich male Dinge, die ich nicht beschreiben kann.«
Sie bezweifelte, dass das stimmte, aber ehe ihr einfiel, wie sie am besten nachfragen konnte, fragte er: »Ich muss es wissen, bevor ich mit ihm spreche - warum glaubt Ihr Vater, Sie hätten etwas mit dem Tod Ihrer Mutter zu tun?«
Besorgnis erfasste sie. »Warum ... was wollen Sie mit meinem Vater besprechen?«
Sein Ärger kehrte zurück; das Lächeln, das er ihr zeigte, war eine Grimasse unterdrückter Wut. Heftig stieß er hervor: »Weil ich nicht vorhabe, als eine Art unwissende Schachfigur ein Urteil über seine Tochter zu fällen.«
»Nein!« Sie fasste ihn am Ärmel. »Bitte - Sie müssen das Porträt malen. Sie haben eingewilligt!«
Ihre Verzweiflung war deutlich zu hören. Er runzelte die Stirn, dann entwand er ihr mit einer raschen Drehung seinen Arm und fasste sie an der Hand. Sie spürte seine Finger einmal über die ihren gleiten, verharren.
Ein Augenblick verstrich, dann seufzte er. Mit der anderen Hand fuhr er sich durchs Haar, sah ihr wieder in die Augen. »Ich verstehe das nicht. Warum sagen Sie ihm nicht einfach, dass Sie unschuldig sind? Zwingen Sie ihn, Ihnen zu glauben! Das wird er doch gewiss, oder etwa nicht? Er ist doch schließlich Ihr Vater!«
Die Falten auf seiner Stirn wurden markanter. »Sie sollten das nicht durchmachen müssen, sich etwas stellen, das fast wie eine öffentliche Ermittlung ist mit mir als Ihrem Inquisitor, der Ihr ganzes Wesen offenlegt und entblößt.«
Sorge, ehrlich und offen, klang aus seiner Stimme - Sorge um sie. Es war ewig her, seit ihr jemand so ohne Weiteres bedingungslose Unterstützung gewährt hatte - und mehr noch, sie verteidigt hatte; sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und sich von allem, was in seiner Stimme mitschwang, einhüllen lassen.
Aber er war verwirrt; er musste jedoch verstehen - musste alles begreifen und zustimmen, ihr Porträt zu malen.
Sie holte tief Luft, spürte die kühle Nachtluft bis in ihr Gehirn dringen. Als sie sich umsah, fiel ihr Blick auf die Bank am Springbrunnen, der im Moment still dastand. Sie deutete darauf. »Setzen wir uns; ich will Ihnen erklären, was geschehen ist. Dann sehen Sie selbst, warum die Dinge so liegen, wie es ist.«
Warum Sie mich so malen müssen, wie ich in Wahrheit hin.
Er ließ ihre Hand nicht los, sondern führte sie zur Bank, wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann nahm er neben ihr Platz. Er beugte sich vor, stützte sich mit einem Ellbogen aufs Knie, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte, schloss seine andere Hand um ihre - und wartete.
Sie war sich seiner Nähe überdeutlich bewusst; ohne weiter auf das Prickeln ihrer Haut zu achten, räusperte sie sich. »Papa - Sie müssen verstehen, dass er sich in einer scheußlichen Lage befindet. Er liebte meine Mutter über alles - sie war wirklich das Licht seines Lebens. Als sie starb, ging das Licht aus, und er ... er verlor seine Verbindung zur Welt. Er war in jeder Beziehung von ihr abhängig, so könnte man sagen, daher war es doppelt schwierig für ihn, sie zu verlieren. Das ist, was geschehen ist, soweit er es weiß.«
Sie machte eine Pause, sammelte ihre Gedanken. »Meine Mutter und ich haben uns gut verstanden, so gut, wie Mutter und Tochter eben. Gesellschaftlich gesehen, bin ich mehr wie Papa - ich genieße Bälle und derlei Unterhaltungen durchaus. Mama jedoch lebte für sie - Gesellschaften waren der Mittelpunkt ihres Lebens. Sie und ich hatten viel Spaß daran, aber ich bin auch die Tochter meines Vaters und kann genauso gut mit Ruhe und Frieden leben, was Mama wiederum wahnsinnig gemacht hätte.«
Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen, als diese Erinnerungen in ihr aufstiegen; sie spürte, wie sie verblassten, als all die vielen anderen Erinnerungen kamen. »Sie war entzückt, als Thomas Entwhistle begann, mir seine Aufwartung zu machen - er ist der Sohn von Sir Harvey Entwhistle. Man
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