Hauchnah
Leere wollte sie verzweifelt gern füllen.
Um sich abzulenken, versuchte sie noch einmal ihr Glück mit den Bauernmarktfotos. Wieder konnte sie auf den meisten Bildern nicht einmal erkennen, was sie zeigten, geschweige denn, ob sie etwas Merkwürdiges oder Belastendes enthielten. Sie hoffte, dass, je öfter sie sie anschaute, die Chance der Erinnerung größer wurde, wie es oft geschah, wenn man einen Weg noch einmal ging, aber …
Moment. Den Weg noch einmal gehen. Bis jetzt war ihr diese Möglichkeit noch gar nicht in den Sinn gekommen. Dabei lag der Bereich, in dem die Stadt den Bauernmarkt veranstaltete, keine zehn Meilen von ihrem Haus entfernt. Klar, an diesem Tag fandder Markt nicht statt, aber wenn sie die Parkwege entlangging, würde ihr Gehirn vielleicht unterbewusst die fehlenden Einzelheiten bereitstellen. Es war doch einen Versuch wert, oder?
Sie brauchte nur eine Fahrmöglichkeit dorthin, und ein Taxi würde sie ganz sicher nicht rufen.
Liz.
Sie ging hinüber in den Essbereich, wo Liz sich zuletzt aufgehalten hatte. „Liz?“
„Ich bin hier, Natalie.“
„Sag mal, könntest du mich fahren? Ich möchte gern ein bisschen nach draußen.“
„Hm, na ja … Ich weiß nicht, Natalie. Ich muss Mac fragen.“
Natalies Miene verdüsterte sich, wenngleich die arme Frau ihren Ärger nicht verdient hatte. „Warum? Kann ich denn gar nichts ohne seine Erlaubnis machen? Er hat gesagt, ich wäre keine Gefangene, aber vielleicht habe ich ihn missverstanden.“
„Weißt du, ich mache nur meine Arbeit, Natalie. Also lass mich Mac anrufen.“
Sie seufzte in Gedanken über Liz’ immer gleich ruhigen, leicht zurechtweisenden Tonfall. „Schön. Ruf ihn an.“
Sie wartete und hörte zu, als Liz telefonierte. „Hallo, Agent McKenzie. Hier ist Officer Lafayette. Natalie fragt, ob ich ein bisschen mit ihr an die frische Luft gehen könnte, und ich wollte mich nur vergewissern … Hm, das hat sie nicht gesagt. Ja, Sir. Natalie, wohin willst du denn?“
Natalie biss die Zähne zusammen. Sagte sich, dass Mac sie nur beschützen wollte. Dass er seine Arbeit machte. „Sag ihm, ich möchte in einen Park und werde meine Kamera mitnehmen, sofern er nichts dagegen hat.“
„Hm, sie sagt, sie will in einen Park und ihre Kamera mitnehmen. Falls Sie nichts dagegen haben.“
Natalie wippte mit dem Fuß und lauschte angestrengt auf Macs Worte in der Leitung, hörte aber nur ein schwaches Grollen. Selbst das klang erotisch. Zum Teufel mit ihm.
„Danke. Er hat Ja gesagt. Ich bin startklar, wenn du es bist.“
Sie fuhren in Liz’ Streifenwagen, da Natalie ihr eigenes Fahrzeug bereits abgeschafft hatte. Knapp zehn Minuten später meldete Liz, dass sie am Ziel waren.
Obwohl es noch nicht dunkel war, richtete Alex die Scheinwerfer seines Wagens auf die nordöstliche Seite der Kirche und betrachtete das Spiel des Lichts an der blassrosa Wand. Als er das massive rosafarbene Gebäude mit den fröhlichen weißen Zierbordüren zum ersten Mal gesehen hatte, dachte er, es müsse ein Irrtum sein. Es sah überhaupt nicht so aus, wie er es von einem Gebetshaus erwartete. Und als er endlich den Mut aufgebracht hatte, hineinzugehen, stellte er fest, dass alles ganz anders war als in Kirchen, die er bisher besucht oder von denen er gehört hatte.
Es war viel besser.
Er umklammerte das Steuer, spielte daran herum und blickte durch die Frontscheibe.
Allmählich verzweifelte er.
Er brauchte Orientierungshilfe.
Der Drang zu sündigen, Natalie Jones zu töten, obwohl die Zeichen dagegensprachen, war stärker als er. Aber war das nicht an sich schon ein Zeichen? Hatte der Heilige Geist ihn nicht hierhergeführt? Führte der Heilige Geist ihn nicht auch in diesem Augenblick?
Er ließ den Blick zum Handschuhfach wandern. Langsam beugte er sich vor und öffnete es. Mit zitternden Fingern nahm er die vertraute Waffe heraus. Wie hypnotisiert betastete er den Abzug. Die Waffe war geladen. Für alle Fälle.
Die Spritze, die er im Handschuhfach aufbewahrte, war auch aufgezogen.
Für alle Fälle.
Beide Gegenstände symbolisierten sein altes Leben, und jedes Mal, wenn er sie ignorierte, spürte er, wie er stärker wurde. Wie seine Zuversicht wuchs, dass er sich geändert hatte. Dass er auf dem richtigen Weg war.
Nur jetzt …
Jetzt fragte er sich, ob die Pistole und vielleicht auch die Spritze ihn auf diesem Weg halten sollten.
Er hob die Pistole und betrachtete sie im Licht, das die Scheinwerfer zurückwarfen. Sie war schwer. Massiv.
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