Haus der Erinnerungen
es. Das war der Sinn. Das war der Zweck, den ich zu erfüllen hatte.
Ich konnte zurückgehen in der Zeit und die Geschichte verändern.
Schon hatte ich den ersten kleinen Schritt in dieser Richtung getan. Ich hatte Jennifer getröstet und ihr gesagt, daß sie Victor wiedersehen würde. Hätte ich es nicht getan, so hätte sie weiter getrauert und geweint, wäre todunglücklich gewesen, bis zu dem Tag seiner Rückkehr. So aber, dessen war ich sicher, saß sie jetzt, in diesem Moment, an einem Juliabend des Jahres 1894 in ihrem Wohnzimmer und machte sich Gedanken über die Prophezeiung, die sie aus dem Mund einer geisterhaften Erscheinung gehört hatte. Und zweifellos hatte sie jetzt wieder einen Funken Hoffnung, der ihr versagt geblieben war, hätte ich nicht eingegriffen.
Was also würde dann als Nächstes kommen? Was würde ich bei der nächsten Begegnung mit einem Mitglied der Familie Townsend sagen oder tun?
Eines fiel mir auf und irritierte mich: Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit darüber, ob und wann ich rückwärts reisen wollte; ich konnte nicht einmal aus eigener freier Wahl dieses Haus verlassen. Dennoch war es mir überlassen, mit meinen Vorfahren Verbindung aufzunehmen oder nicht. Ich war nicht gezwungen worden, jene Worte zu Jennifer zu sprechen. Ich hatte sie aus freiem Willen gesprochen. Die Entscheidung, einzugreifen oder nicht, lag offenbar ganz bei mir.
Aber welchen Zweck, welche Aufgabe sollte ich dann erfüllen? Warum war ich auserkoren worden, in die Vergangenheit zurückzukehren, wenn es dann ganz mir überlassen blieb, ob ich in die Ereignisse eintrat oder an ihrer Peripherie verharrte? Und wozu eingreifen? Warum sollte mir überhaupt der Gedanke kommen einzugreifen?
Das hatte doch nur einen Sinn, wenn es einem guten Zweck diente.
Plötzlich hatte ich die Antwort.
Ich hob den Kopf und blickte zum Fenster gegenüber, ich sah den Regen, der immer noch in Bächen an den Scheiben herabströmte, und ich dachte, es liegt in meiner Macht, das Schicksal dieser Familie zu ändern.
Plötzlich erschien mir alles ganz einfach, gar nicht mehr rätselhaft. Das Geheimnis war endlich gelüftet. Ich wußte, wozu ich in das Haus in der George Street gekommen war.
Ich wußte, wozu ich auserwählt worden war und worin meine Bestimmung lag.
»Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«
Das hatte meine Großmutter an meinem zweiten Tag in diesem Haus zu mir gesagt.
Sie hatte von »unsäglichen Scheußlichkeiten« gesprochen, Victor als einen Teufel bezeichnet, der mit dem Satan in Verbindung stand. Mir war jetzt alles klar. Von seinem Bruder und den Bürgern des Städtchens zu Unrecht verdächtigt und verdammt, war Victor Townsend in Zorn und Bitterkeit fortgegangen. Sein Leben war verpfuscht. Er hatte seine berufliche Karriere aufgegeben, er hatte Jennifer verloren, er war aufs Schlimmste verleumdet und aus seiner Heimat vertrieben worden.
Während ich auf dem Sofa saß und ins Leere starrte, sah ich ihn vor mir, wie er nach Hause zurückkehrte, ein völlig anderer. Ich sah ihn getrieben von finsterer Rachgier, die einen grausamen, brutalen Menschen aus ihn gemacht hatte, für den nur noch eines zählte - es denen heimzuzahlen, die ihn mit Füßen getreten oder tödlich verletzt hatten.
War es so gewesen? War Victor nach Monaten des Alleinseins und der Einsamkeit, in denen der Gedanke an Rache allmählich sein Herz vergiftet hatte, mit dem Ziel zurückgekehrt, die zu vernichten, die er einst geliebt hatte?
War an Großmutters Geschichten vielleicht doch etwas Wahres?
Die Stunden verrannen träge. Ich saß in unveränderter Haltung auf dem Sofa, gelähmt von meiner körperlichen Schwäche und niedergedrückt von meinen Gedanken, die unablässig um dasselbe kreisten.
Es lag, sagte ich mir, in meiner Macht, wenn nicht Harriet, so doch wenigstens Jennifer vor der Rache des außer sich geratenen Victor Townsend zu bewahren. Wenn er wirklich so zurückkehren sollte, wie ich es mir vorstellte, würde es mir dann möglich sein, einzugreifen und Jennifer vor dem Schicksal zu retten, das ihr zugedacht war?
Konnte ich die Geschichte verändern?
Und wenn ich es tat, was würde dann aus mir werden? Jennifer war meine Urgroßmutter. Sie war von Victor vergewaltigt worden, und aus diesem Akt der Gewalt war Robert hervorgegangen, ihr Sohn, mein Großvater. Was aber würde geschehen, wenn es mir tatsächlich gegeben war, einzugreifen und die Gewalttat zu
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