1288 - Das unheimliche Mädchen
Ich bin verrückt! Ich habe einen Fehler begangen. Ich bin ausgerastet. Das hätte ich nicht tun sollen!
Die Vorwürfe jagten durch ihren Kopf. Sie schaute auf ihre rechte Hand, die ebenfalls leicht gerötet war, so hart hatte sie die Siebzehnjährige geohrfeigt. Im Nachhinein wusste sie selbst nicht, warum sie so reagiert hatte, sie hatte es getan, und ein Zurück gab es nicht mehr. Sie wollte auch nicht die Tür aufreißen und hinter Gabriela herlaufen. Nein, nicht an diesem Abend. Später ergab sich möglicherweise eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung.
Rosanna löste sich von der Haustür, gegen die sie sich gelehnt hatte. Mit sehr langsamen Schritten und sich über das Gesicht streichend, ging sie zurück in das kleine Bad. Hier war sie gewesen, als das Klingeln sie erschreckt hatte.
Vor dem Spiegel hielt sie an. Der erste Blick.
Sie war nicht mit sich zufrieden, und das musste sich ändern. Zwar war sie erst 30, aber das Leben hatte schon seine Spuren hinterlassen. Nicht nur, dass sie die Zwillinge geboren hatte und die beiden Jungen jetzt allein erzog, nein, es kam noch etwas hinzu, und das bezeichneten manche Menschen als Broterwerb.
Gut, es gab den Vater der Jungen. Er zahlte auch hin und wieder eine Summe. Aber sie reichte nicht aus. Rosanna hätte sich damit nur soeben über Wasser halten können. Und eine Bezahlung des Mietzinses wäre fast unmöglich gewesen.
Also musste sie für andere Einkünfte sorgen. Da sie wegen der Kinder nur schwer einem normalen Beruf nachgehen konnte, hatte sie sich entschlossen, hin und wieder einige Euro nebenbei zu verdienen. In der Stadt wurden öfter Messen und Kongresse abgehalten. Da suchten die männlichen Besucher am Abend Abwechslung.
Rosanna sorgte dafür, dass die Leute ihre Wünsche erfüllt bekamen. Sie arbeitete auf dem grauen Markt der Liebe. Sie empfing Gäste, verwöhnte sie und war auch nicht preiswert, denn das konnte sie sich in ihrem Alter noch leisten.
In den nächsten Stunden würde sie zwei Männer empfangen. Der eine wollte schon in einer Stunde bei ihr sein, der zweite würde erst um Mitternacht erscheinen.
Beide waren schon zu Stammkunden geworden. Sie stammten aus dem Süden, und wenn sie in Mailand zu tun hatten, war der Besuch bei Rosanna so etwas wie eine Pflicht.
Ihre beiden Jungen schliefen. Sie befanden sich in dem Alter, in dem Schlaf sehr wichtig war. Sie waren knapp 13 Monate alt und zwei prächtige kleine Burschen. Wenn nichts dazwischen kam, würden sie die Nacht über durchschlafen. Das war in der Regel so.
Die einzige Störung hieß Gabriela. Warum war sie gekommen? Rosanna hatte die Sitterin nicht bestellt. Sie war von allein bei ihr aufgetaucht und hatte sich auch nicht abweisen lassen.
Das verstand die Frau nicht, die ihre dunklen Haare ausgekämmt hatte und nun dabei war, sich zu schminken. Nicht zu stark, mehr dezent. Nur etwas Rouge auf die Wangen. Die Brauen leicht nachgezogen. Ein wenig Glimmer auf die Lider. Die Konturen der Lippen mit einem feinen Pinsel nachgezogen.
Es klappte. Es hatte immer geklappt. Rosanna besaß Profiqualitäten, was das Schminken anging. An diesem Abend allerdings konnte sie sich nicht so recht darauf konzentrieren. Ständig musste sie an Gabriela denken. Warum war sie gekommen?
Eine Antwort fand sie nicht, weil sie nicht begreifen konnte, dass jemand freiwillig erschien, um auf die Kleinen aufzupassen. So etwas entsprach nicht der Normalität.
Aber wie normal war Gabriela?
Auch darüber machte sich Rosanna Gedanken, denn es gab Menschen, die sie nicht besonders mochten. Zwar hatte Gabriela ihnen nichts getan, doch es gab Personen, die um Gabriela einen Bogen machten. Für sie war die noch so junge Frau nicht normal. Sie hatte den bösen Blick. Sie wusste vieles, und von nicht wenigen älteren Frauen war sie schon als Hexe bezeichnet worden.
Darauf gab Rosanna nichts. Sie war immer froh gewesen, Gabriela zu haben, umso überraschter war sie über ihr Ausrasten gewesen. Das konnte sie nicht fassen. Da stimmte etwas nicht. Es war so plötzlich über sie gekommen. Auch jetzt, da sie etwas Abstand hatte, wurde ihr der Grund nicht klar.
Sie war ausgerastet. Einfach so. Zugeschlagen, in das schöne Gesicht des jungen Mädchens.
Das schöne Gesicht. Die Jugend. Verdammt, das lag schon einige Jahre hinter Rosanna. Möglicherweise hatte sie auch eifersüchtig reagiert. Möglich war alles. Jedenfalls stand fest, dass sie die Beherrschung verloren hatte, was sie noch nie erlebt hatte.
Oder
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