Haus der Erinnerungen
Victor. Oder daß Du mich zu Dir kommen läßt, ganz gleich, wo Du bist. Warum willst Du nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die Dich lieben und Deine Abwesenheit nicht ertragen können?
John ist nicht zurückgekehrt und hat auch niemals geschrieben. Ich fürchte, ich werde nie wieder von ihm hören. Wo immer Dein Bruder auch sein mag, vielleicht ist er dort glücklicher. Ich frage mich, ob Du es auch bist.«
Jennifer hörte plötzlich zu schreiben auf, packte das Blatt mit einer raschen, zornigen Bewegung, zerknüllte es in ihrer Hand und warf es ins Feuer. Dann schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.
Ich war ihr so nahe, daß ich den Duft ihres Rosenwassers riechen konnte. Ihre schmalen Schultern zitterten, Sie dauerte mich so sehr, daß ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Ich besaß das Wissen, das sie trösten konnte; ich wußte, daß Victor zurückkehren würde. Aber wie konnte ich ihr das mitteilen?
Ich versuchte es wieder.
Ich holte tief Atem, um mir Mut zu machen, und sagte dann in ruhigem Ton:
»Jennifer.«
Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff die Augen zusammen, als versuche sie, mich zu sehen.
»Jenny«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. Mein Herz klopfte wie rasend.
Jetzt war es soweit! Das war der Moment des Durchbruchs. »Jenny, du brauchst nicht zu weinen. Er wird zurückkommen. Victor wird zurückkommen.« Sie hielt einen Moment den Atem an. »Wer - wer bist du?« Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden vor Anstrengung und Spannung. »Eine Freundin.«
»Du kommst mir bekannt vor...«
»Er kommt zurück, Jenny...« Doch noch während ich mit Jennifer sprach, verschwand sie mir aus den Augen. Ich glitt von der Couch und blieb wie betäubt auf dem Boden liegen.
Das Zimmer drehte sich in schwankenden Kreisen um mich, der Boden hob sich, und die Zimmerdecke senkte sich herab. Die Wände kamen mir entgegen und wichen wieder zurück.
Ich krallte meine Finger in den dünnen Teppich, um nicht ins Leere zu stürzen. Ich spürte, wie der Boden unter mir sich öffnete, und ein Gefühl überkam mich, als treibe ich im freien Raum.
Als das Zimmer wieder ruhig wurde und ich wieder festen Boden unter mir fühlte, stand ich stöhnend auf. Ich war so matt, daß diese einfache Handlung meine ganze Kraft und Konzentration in Anspruch nahm, und als ich mich endlich hochgerappelt hatte, schaffte ich es nicht, aufrecht stehenzubleiben. Ich taumelte so stark, daß ich mich sofort wieder in das Sofa fallen ließ.
Mein ganzer Körper war schweißgebadet. Das T-Shirt lag naß auf meiner Haut, mein feuchtes Haar klebte mir im Nacken. Und ich fühlte mich am ganzen Körper krank und elend.
Ich hatte, wenn auch nur einen flüchtigen Moment lang, die Zeitbrücke überschritten.
Jennifer hatte mich gesehen, hatte zu mir gesprochen. Sie mußte mich einen Augenblick lang in aller Deutlichkeit wahrgenommen haben, denn sie hatte ja geglaubt, mich zu kennen. Lag es an der Familienähnlichkeit? Oder hatte es einen anderen Grund? Langsam wurde mir die Tragweite dessen, was geschehen war, voll bewußt. Ich hatte die Kluft zwischen den Zeiten überwunden. Einen Herzschlag lang war ich in der Welt des Jahres 1894
gewesen.
Ich wußte jetzt mit Gewißheit, daß meine nächste Begegnung länger dauern, intensiver sein würde. Ich würde mit ihnen sprechen, sie berühren - und was noch? Und mit wem?
Victor? Wäre ich nicht körperlich so geschwächt gewesen, so wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fürchten. So aber, erschöpft und ausgelaugt wie ich war, konnte ich nur immer über das Phänomen nachdenken, dem ich mich jetzt gegenübersah. Es gab jetzt für mich keinen Zweifel mehr daran, daß meine Reisen in die Vergangenheit einen ganz bestimmten Sinn hatten. Es hatte seinen guten Grund, daß ich in die Vergangenheit geholt wurde.
Aber was für ein Grund war das?
Ich streckte mich auf der Couch aus und ließ in der linden Wärme des Zimmern meine Haut und meine Kleider trocknen. Nebelhaft noch begann sich eine Vorstellung in meinem Hirn zu bilden. Es hatte etwas mit Veränderung zu tun.
Schon einmal hatte ich die Zeitkluft überwunden und hatte den Ablauf der Ereignisse im Jahr 1894 unterbrochen. Ich hatte Jennifer aus ihrer Traurigkeit gerissen und ihr gesagt, daß Victor zurückkehren würde.
Was würde ich das nächste Mal tun? Was würde ich zu dem nächsten toten Townsend sagen, mit dem ich zusammentreffen würde?
Natürlich. Das war
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