Haus der Erinnerungen
du dann tun?«
Jennifer zuckte die Achseln. Es war unwichtig. Ohne Victor war alles unwichtig.
Der ätzende Unterton in Harriets Stimme beunruhigte mich. In den drei Monaten, seit sie ihr Kind verloren hatte, schien Harriet bitter und hart geworden zu sein. Die abwertende Art, wie sie von Victor gesprochen hatte, gab mir Anlaß zu der Frage, ob nicht er derjenige gewesen war, der ihr zur Strafe das schöne Haar abgeschnitten hatte. Ich hatte noch die Worte im Ohr, die sie im Salon zu sich selbst gesprochen hatte. »Er hat dich bestraft, weil du es gesagt hast. Sein gutes Ansehen ist ruiniert. Er wußte nicht, wie er sonst seinen Zorn und seine Wut an dir auslassen sollte.«
Ich schüttelte die Erinnerung ab. Mochten die anderen ihn verdammen, ich konnte nicht glauben, daß Victor der schlechte und gemeine Mensch war, als den seine Nachkommen ihn hinstellten. Wie Großmutter ihn beschimpft hatte! Ihm allein hatte sie die Schuld an der Tragädie dieser Familie gegeben. Aber Victor war so sehr Opfer wie die anderen und gewiß nicht der allein Verantwortliche.
Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich rieb mir die Augen und kämpfte gegen das Gefühl, daß an dem, was alle behaupteten, vielleicht doch etwas Wahres sein könnte.
Großmutter hatte ihre Geschichten nur aus zweiter und dritter Hand, aber hier sprachen die, welche ihm am nächsten gewesen waren. Was war in diesen letzten drei Monaten wirklich geschehen?
Als ich meine Hände von den Augen nahm, sah ich, daß Jennifer und Harriet mich verlassen hatten. Ich war wieder allein in dem tristen kleinen Wohnzimmer, mein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und mein ganzer Körper schrie nach Schlaf. Ich blickte trostlos auf das regenasse Fenster. Wie lange würde ich noch die Gefangene dieses Hauses und seiner Vergangenheit bleiben?
Zuerst glaubte ich, das Dröhnen sei in meinem Kopf, aber als ich die Augen öffnete und das wäßrig graue Morgenlicht durch die Scheiben sickern sah, erkannte ich, daß es von Großmutter kam, die oben mit ihrem Stock auf den Boden klopfte. Ich stand aus dem Sofa auf und versuchte, mich aus den Nebeln des Schlafs zu befreien. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß es fast acht war. Ich hatte anscheinend den größten Teil der Nacht geschlafen, aber ich fühlte mich wie gerädert. Ich war so schlapp und kraftlos, daß ich die Treppe hinaufkeuchte wie eine uralte Frau. Wie schaffte Großmutter das nur? Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie schon aufrecht in ihren Kissen, und sie war es, nicht ich, die rief: »O mein Gott, du siehst ja schrecklich aus!«
»Wie fühlst du dich heute morgen, Großmutter?«
»Die Arthritis hat mich immer noch in ihren Fängen, Kind. Aber der Regen kann ja nicht ewig anhalten. Im Radio haben sie wenigstens gesagt, daß es heute abend besser wird.
Dann bekommen wir vielleicht ein bißchen Sonne. Elsie und William werden sicher vorbeikommen, wenn der Regen nachläßt. Dein Großvater hat ja jetzt schon ein paar Tage keinen Besuch mehr gehabt. Wir dürfen ihn nicht beunruhigen.«
»Kannst du nicht aufstehen, Großmutter?«
»Andrea, was ist mit deinen Augen?«
»Ich weiß nicht. Warum?«
»Schau dich doch nur mal an.« Ich ging zum Toilettentisch und warf einen scharfen Blick in den Spiegel. Meine Augen waren so rot und verschwollen, als hätte ich einen Boxkampf hinter mir.
»Und wie blaß du bist. Du siehst richtig ausgelaugt aus. Ja, völlig ausgelaugt. Als hätte dir jemand das ganze Blut aus den Adern gesogen. Wie fühlst du dich denn?«
»Ach, ganz gut. Nur müde bin ich.«
»Ich glaube, für dich ist es das Beste, wenn du bald wieder nach Hause fliegst. Wenn dieses schlechte Wetter vorbei ist, gehst du ins Reisebüro und buchst einen Flug.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Das klingt, als wolltest du mich loswerden.«
»Unsinn! Aber ich mache mir Sorgen um dich, Kind.« Meine Großmutter sah mich so ernst und durchdringend an, daß ich mich abwenden mußte. Tief im Innern spürte ich die Veränderung, die sich vollzog. Ich wußte, daß mir etwas fehlte, aber ich hatte zu große Angst, es mir einzugestehen. Wenn ich es einfach ignorieren, darüber hinweggehen, so tun konnte, als wäre es nicht da... Doch Großmutters tiefe Besorgnis machte mir auf unangenehme Weise bewußt, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war. »Ich mache dir eine Tasse Tee, Großmutter.
Und Toast dazu?«
»Ach, das ist lieb von dir. Obwohl es mir weiß Gott nicht recht ist, mich von dir bedienen zu lassen. Aber wer
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