Haus der Erinnerungen
geistesabwesend zu den kahlen Büschen hinaus.
»Ja, sicher, am Anfang schon, aber es war sinnlos. Es ist wahrscheinlich schlechter Boden.« Sie sah mich an. »Weißt du, es ist komisch, jetzt, wo ich darüber nachdenke - nie ist uns in diesem Garten etwas gewachsen. Und uns ist auch kein Haustier geblieben, ob Hund oder Katze. Immer sind sie uns weggelaufen. Das muß am Boden liegen, sagte dein Großvater immer.« Ihre Worte weckten ein seltsames Gefühl in mir, aber ich schüttelte es ab und sagte:
»Wie lange lebt ihr hier schon allein, du und Großvater?«
»Dein Onkel William ist als letzter ausgezogen. Das muß jetzt zwanzig Jahre her sein oder länger. Danach brauchten dein Großvater und ich die anderen Räume nicht mehr. Aber die Möbel sind noch alle da, so wie sie waren, als ich vor zweiundsechzig Jahren hier eingezogen bin.«
»Im Ernst? Das alles hier ist noch von damals?«
»Jedes Stück. Auch das Bett, in dem du heute nacht geschlafen hast. Das kam alles so um 1880 ins Haus.«
»Du hast ein paar wertvolle alte Dinge hier, Großmutter.«
»Ja, ich weiß. Und da liegen mir Elsie und William dauernd in den Ohren, daß ich alles verkaufen und in eine Wohnung ziehen soll.
Das kann ich doch nicht! Das Haus steckt für mich voller Erinnerungen. Niemals könnte ich einfach von hier fortgehen. Das Haus ist ein Teil von mir, Andrea.«
Ich sah wieder zum Fenster hinaus, betrachtete den leuchtend blauen Himmel und versuchte mir vorzustellen, wie es sein mußte, zweiundsechzig Jahre lang im selben 'Haus zu leben. Die längste Zeit, die ich mit meinen Eltern irgendwo gelebt hatte, waren zehn Jahre gewesen, in einem Haus in Santa Monica, und wir hatten gemeint, es wäre eine Ewigkeit.
»Dieses Haus hat viel erlebt, Andrea, und es hat auch an Unglück nicht gefehlt.«
Ich wandte mich wieder meiner Großmutter zu. Sie wich meinem Blick aus. »Aber es hat natürlich auch viel Freude gesehen. In jeder Familie gibt es beides, nicht wahr?« Der Rest des Morgens verging mit Aufräumen, Abwaschen und Großmutters Gesprächen über die Misere der britischen Wirtschaft. Um ein Uhr kamen Elsie und Ed, durchgefroren und mit roten Nasen.
»Es wird wieder kälter«, bemerkte Elsie und eilte zum Kamin. »Hoffentlich frierst du nicht, Andrea.«
»Nein, nein, ich hab mich warm angezogen. Wie lang ist die Besuchszeit?«
»Nachmittags nur eine Stunde. Aber das ist auch genug für deinen Großvater. Wir wollen ihn nicht ermüden. Und abends kann man anderthalb Stunden bleiben.«
»Geht ihr beidemale?«
»Nein, Kind. Abends geht William mit seiner Frau. Wir können nachmittags gehen, weil Ed schon in Rente ist. William und May gehen abends nach dem Essen. Manchmal geht auch Christine nach der Arbeit zu Großvater.«
Über Christine wußte ich ein wenig. Sie war sieben Jahre jünger als ich und arbeitete als Stenotypistin in einer Fabrik in der Nähe. Elsies Kinder, mein Vetter Albert und meine Cousine Ann, lebten nicht mehr in Warrington. Ann war nach Amsterdam gegangen, und Albert hatte geheiratet und lebte jetzt in Morecambe Bay an der Irischen See.
Geradeso wie meine Mutter ihren Verwandten über besondere Ereignisse in unserer Familie geschrieben hatte, meinen College-Abschluß zum Beispiel und Richards Entschluß, nach Australien zu gehen, hatte unsere englische Verwandtschaft uns über die Jahre von ihrem Leben berichtet. Aber ich kannte Christine, Albert und Ann natürlich nur von Fotos, und abgesehen von einigen Äußerlichkeiten - daß Ann in Amsterdam als Malerin arbeitete, Albert und seine junge Frau eine kleine Tochter hatten und Christine hier in Warrington in ihrer eigenen kleinen Wohnung lebte - wußte ich nichts über sie.
Und ich wollte auch gar nichts wissen. Ich war so lange ohne Verwandtschaft ausgekommen, da hatte ich jetzt keinerlei Bedürfnis, Beziehungen herzustellen. In wenigen Tagen würde ich sowieso nach Los Angeles zurückkehren, und diese Menschen hier würden wieder aus meinem Leben verschwinden.
»Deine Mutter und ich waren zwei schlimme Mädchen«, sagte Elsie, als ich mich zu ihr an den Kamin setzte. »Mir ist schleierhaft, wie der arme William es mit uns ausgehalten hat. Wir waren beide älter, weißt du, und wir haben ihn furchtbar tyrannisiert.« Sie lachte.
»Ach, wie schade, daß Ruth nicht mitkommen konnte. Aber so eine Fußgeschichte ist langwierig und schmerzhaft, nicht wahr? Weißt du eigentlich, Andrea, daß ich dich als Baby eine Weile versorgt habe? Deine Mutter wurde
Weitere Kostenlose Bücher