Haus der Erinnerungen
kurz nach deiner Geburt krank und mußte noch einmal ins Krankenhaus, und da hab ich mich um dich gekümmert. Das war schön. Es war, als wärst du mein Kind. Ich hatte damals noch keine Kinder. Albert wurde erst ein Jahr später geboren.«
So erzählte sie eine Weile weiter, bis es Zeit war zu gehen. Dankbar für die Wollmütze und die Handschuhe, die Elsie mir mitgebracht hatte, mummelte ich mich richtig ein und wappnete mich gegen die Kälte, die uns draußen erwartete. »Und wenn du zurückkommst, gibt es einen guten Fisch, Kind«, sagte Großmutter, die uns zur Tür begleitete. »Ich kann heute nicht mitkommen, Andrea. Es ist zu kalt für meine alten Knochen.
Vielleicht am Sonntag, wenn ich mich wohl genug fühle.« Als ich Elsie und Ed hinterhergehen wollte, die schon auf dem Weg zum Wagen waren, hielt sie mich fest. »Er ist ein Fremder für dich, Andrea, aber daran solltest du dich nicht Stören. Er ist ein Townsend genau wie du eine Townsend bist. Denk immer daran, daß er der Vater deiner Mutter ist. Er ist dein Großvater, und er braucht dich jetzt. Er braucht uns alle.« Ich nickte stumm und lief zum Wagen hinaus.
Das Städtische Krankenhaus von Warrington wirkte bei Tag genau so mächtig und bedrohlich wie am Abend zuvor, als Elsie es mir gezeigt hatte. Hier, zwischen diesen dicken roten Backsteinmauern, hatte ich meinen ersten Schrei getan. Und nun, siebenundzwanzig Jahre später, war ich zurückgekehrt, auf einer Art unfreiwilliger Pilgerfahrt zu meinen Wurzeln. Das erste, was ich wahrnahm, als wir durch die Schwingtür des Krankenhauses traten, war der entsetzliche Geruch. Er war so ekelhaft und durchdringend, daß mir beinahe übel wurde. Ed und Elsie schienen ihn gar nicht zu bemerken. Sie waren ganz damit beschäftigt, Handschuhe, Mützen und Schals abzulegen und ihre Mäntel aufzuknöpfen. Ich machte es ihnen nach und bemühte mich, den Gestank zu ignorieren, während ich ihnen durch den langen Korridor zur Station folgte.
Hier erwartete mich der nächste Schock: Das Krankenzimmer war ein großer düsterer Raum mit nacktem Holzfußboden und kahlen weißen Wänden. Zwanzig Betten standen nebeneinander an jeder der beiden Längswände, am einen Ende des Raums war ein Wasch-becken, am anderen ein altmodischer Fernsehapparat. Die Vorhänge an den Fenstern waren trist, in einer Ecke stand ein Stapel Klappstühle.
Dort nahm Ed drei Stühle, klappte sie auf und stellte sie zu beiden Seiten des Betts auf, das der Tür am nächsten stand.
»Komm, Kind«, sagte er zu mir. »Setz dich zu deinem Großvater.“ Ich näherte mich langsam dem Bett, den Blick auf das Gesicht des alten Mannes gerichtet, der darin schlief. Einen Moment lang blieb ich an seiner Seite stehen und betrachtete die eingefallenen Züge, die durchsichtig scheinende Haut, die dünnen Büschel weißen Haars, die von seinem Kopf abstanden. Er lag da wie aufgebahrt, so ruhig, so tief.
Mein Großvater schlief in inniger Ruhe, als hätte er schon den letzten Frieden gefunden. Ich zog mir einen Stuhl heran. So laut wie unsere Stimmen und unsere Schritte tönte das Kratzen der Stuhlbeine auf dem Holzboden durch den ganzen Krankensaal. Elsie und Ed setzten sich auf der anderen Seite des Betts nieder, und Elsie fing sofort an, in ihrer großen Handtasche zu kramen, um allerhand Leckerbissen für ihren Vater zum Vorschein zu bringen. Eine Packung Kekse. Eine Flasche Orangensaft. Eine Rolle Pfefferminztaler. Dabei redete sie auf den Schlafenden ein, als wäre er hellwach, erzählte endlos vom Rugbyspiel zwischen Warrington und Manchester, vom Pferderennen, wo mein Großvater offenbar häufig sein Glück versucht hatte, von den Fernsehsendungen über die königlichen Jubiläumsfeiern und von Alberts kleiner Tochter.
Ed saß lächelnd dabei, verteilte die Geschenke auf dem Nachttisch und unterstützte Elsie mit bestätigenden Kommentaren. Mich verblüffte das Verhalten der beiden. Wäre nicht die leichte Auf- und Abwärtsbewegung der Brust unter der Decke gewesen, man hätte den alten Mann im Bett für tot halten können. Sein Körper lag so reglos, als wäre er schon ohne Leben. Ich suchte in dem fremden Gesicht nach vertrauten Zügen. Zu Hause, in meinem Album, hatte ich Fotos von meinem Großvater. Sie zeigten einen kräftigen, robusten Mann mit dichtem schwarzen Haar und einem etwas derben, aber gut geschnittenen Gesicht. Doch es waren Bilder eines Fremden, eines Mannes, der mir nichts bedeutete. Und auch jetzt, da ich ihn vor mir hatte,
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