Haus der Erinnerungen
blieb er mir fremd. Und doch war da, kaum erkennbar in dem im Schlaf entspannten Gesicht, die steile kleine Falte über der Nase, das besondere Merkmal der Townsends.
Ich schluckte und schob die Hände auf meinem Schoß fest ineinander.
»Du wunderst dich wahrscheinlich, wieso wir mit ihm sprechen«, sagte Elsie plötzlich.
Mit einem Ruck hob ich den Kopf. Ich hatte ihre Anwesenheit vergessen.
»Weißt du, der Arzt hat uns gesagt, daß ein Mensch, auch wenn er schläft, immer noch hört. Stimmt's, Ed? Er hat gesagt, das Gehör versagt als letztes, wenn jemand stirbt, darum können Kranke, auch wenn sie bewußtlos sind, noch hören. Und auch wenn Vater überhaupt nicht reagiert, kann es sein, daß er unsere Stimmen wahrnimmt und daß es ihn tröstet, daß wir da sind. Deshalb rede ich immer mit ihm. Ich meine, das ist doch das mindeste, was man tun kann, nicht?« Sie sah mich erwartungsvoll an, und ich wußte, was sie wollte.
Ich blickte wieder auf das alte wächserne Gesicht hinunter, die schlaffen Lippen, die in den zahnlosen Mund eingezogen waren, und auf die wie verwischt wirkende steile kleine Falte zwischen den weißen Brauen. Ich neigte mich leicht über das Bett und legte vorsichtig eine Hand auf die Decke, unter der ich einen mageren, knochigen Arm fühlte. »Hallo, Großvater. Ich bin's, Andrea.« Meine Worte hingen in der Luft. Wir beugten uns alle drei über das Bett.
Dann sagte Elsie leise: »Er hat dich gehört, Kind. Er weiß, daß du hier bist.«
Während ich unverwandt in das schon vom Tod gezeichnete Gesicht sah, versuchte ich, mir den schneidigen jungen Pionier vorzustellen, der 1915 nach Mesopotamien gezogen war. Ich versuchte, unter der verfallenen Hülle eine Spur des jungen Mannes zu erkennen, der meine Mutter auf den Knien gehalten hatte. Aber es gelang mir nicht. Ich wollte es erzwingen. Ich wollte wenigstens ein Fünkchen Zuneigung zu diesem sterbenden alten Mann heraufbeschwören. Aber ich empfand nichts. Er war und blieb mir fremd, nichts weiter als ein sterbender alter Mann. Ich hob den Kopf und sah Elsie an und zwang mich zu einem Lächeln. Mit ihr und den anderen Verwandten ging es mir nicht anders. Wie sollte ich die Zuneigung geben, die sie suchten, wenn ich sie nicht empfand?
Endlich, endlich war die Stunde um. Ich hatte geglaubt, sie würde niemals vergehen.
Menschen waren gekommen, um die anderen Patienten in diesem schrecklichen Krankenzimmer zu besuchen. Ihre Stimmen hallten zwischen den kahlen Wänden wider, das Dröhnen ihrer Schritte störte die Stille. Schwestern und Pfleger eilten geschäftig hin und her.
Jemand schaltete das Fernsehgerät ein. Der alte Mann im nächsten Bett bekam einen heftigen Hustenanfall.
Doch mein Großvater lag ruhig und reglos. Wo immer er auch war, er befand sich anscheinend an einem Ort, der ungleich schöner und friedlicher war als dieser Saal.
Ich bemühte mich, meine Erleichterung nicht zu zeigen, als wir uns verabschiedeten.
Ich war froh, daß niemand von mir erwartete, William und seine Frau am Abend nochmals hierher zu begleiten.
»Diese Kälte bekommt dir gar nicht, Kind«, sagte Elsie, als wir zum Wagen gingen.
»Du kennst ja auch nur Südkalifornien. Ich kann mir vorstellen, wie unwohl du dich in diesem Wetter fühlst. Aber es war lieb von dir, daß du mitgekommen bist. Vater wird nicht mehr lange leben, und dann ist es vorbei.« Ich sah die Tränen in ihren Augen und berührte leicht ihren Arm.
»Du tust uns allen gut«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Vater hätte sich sicher gewünscht, in seinen letzten Stunden Ruth noch einmal zu sehen. Aber du bist ja genau wie deine Mutter. Du hast das gleiche Lächeln. Wenn man dich ansieht, meint man, deiner Mutter ins Gesicht zu schauen, wie sie damals war, als sie von hier fortging.«
Ich wandte mich ab und stieg schnell ins Auto. Elsie setzte sich nach vorn neben Ed, ohne mit dem Sprechen aufzuhören. »Es wäre so schön gewesen, wenn deine Mutter schon früher einmal auf Besuch gekommen wäre. Wahrscheinlich macht sie sich jetzt Vorwürfe.«
»Ja, das tut sie.«
»Ich kann's verstehen. Mir würde es genauso gehen. Aber die Zeit verstreicht, und die Jahre vergehen, und eines Tages erkennt man plötzlich, daß kein Mensch ewig lebt.« Ed fuhr den Wagen vom Parkplatz.
Ich war nie mit dem Tod in Berührung gekommen, hatte nie einen Sterbenden erlebt, nie eine Leiche gesehen, nie einen nahestehenden Menschen durch Tod verloren. Der Tod war ein abstrakter Begriff für mich,
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