Haus der Erinnerungen
war als junger Bursche fortgegangen, und als er nach Hause kam, war er ein Mann.«
Ich starrte auf ihre runzligen alten Lippen, während sie mir in diesem schwer verständlichen Dialekt ihrer Heimat erzählte. »Ja, er war ein ganz anderer geworden. Und als wir mit zwei Jahren Verspätung unsere Hochzeitsnacht nachholten, da war es für mich, als läge ich bei einem völlig Fremden.« Ich versuchte, mir diesen Mann vorzustellen, den ich nie gesehen hatte, den Vater meiner Mutter, der jetzt im nahen Krankenhaus im Sterben lag und der zweiundsechzig Jahre in diesem Haus gelebt hatte. Und dann versuchte ich, mir Großmutter als junges Mädchen vorzustellen, einundzwanzig Jahre alt, wie sie schamhaft und scheu das erstemal mit ihrem Mann zu Bett ging. Ich dachte an Doug, an unsere letzte gemeinsame Nacht, an die verletzenden Worte, die wir einander ins Gesicht geschleudert hatten. Aber als sein vertrautes, lächelndes Gesicht vor mir erschien, vertrieb ich augenblicklich die Erinnerung. Es war vorbei. Doug und ich waren fertig miteinander. Dieser Schmerz würde vergehen, die Erinnerungen verblassen, und ich würde wieder frei sein.
»Wenn man jung ist, denkt man nicht viel über die Vergangenheit nach, nicht?«
meinte Großmutter. Sie rieb die Hände aneinander und hielt sie in die Wärme der Gasheizung.
»Ich habe es jedenfalls nicht getan. Ich glaubte, ich würde ewig leben. In der Jugend denkt man nie an den Tod. Man hat noch keine Vergangenheit, auf die man zurückschauen kann, und man ist vom Tod so weit entfernt, daß man glaubt, er wird nie zu einem kommen. Aber wenn man alt wird, Andrea, und der Tod nicht mehr weit ist, dann ist die Vergangenheit das einzige, was einem bleibt.« Sie blickte einen Moment gedankenverloren vor sich hin, dann stand sie plötzlich aus ihrem Sessel auf, als wäre ihr etwas eingefallen. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie ging schwerfällig zum Büffet, stützte sich dabei auf die Rückenlehne des Sessels und auf ihren Stock. Ihre Beine waren nach außen gekrümmt, und ihre Schultern waren unter dem runden Rücken weit nach vorn gezogen.
Sie kramte in einer Schublade und sagte dann: »Hier hab ich etwas, das du nie gesehen hast.«
Sie reichte mir eine Fotografie. Es war eine sehr alte Aufnahme, die das Gesicht einer strahlend schönen Frau zeigte, das wie unter verblichenem Sepia verschleiert schien. »Wer ist das?« fragte ich.
»Das war die Mutter deines Großvaters«, antwortete sie. Ich konnte den Blick nicht von diesem schönen Gesicht wenden. »Seine Mutter? Hat Großvater Ähnlichkeit mit ihr? Wie alt ist das Bild?«
»Oh, das weiß ich nicht genau. Laß mich nachdenken. Es wurde aufgenommen, bevor Robert - das ist dein Großvater - geboren war, und sie war, glaub ich, zwanzig, als sie ihn bekam...« Ich spürte, wie mich diese traurigen braunen Augen in ihren Bann zogen. Das Lächeln der Frau, die das Haar züchtig zum Knoten gesteckt hatte und am hochgeschlossenen Kragen ihres Kleides eine Kamee trug, schien mir süß und schwermütig zugleich, und ich hatte den Eindruck, als hätte sie dem Fotografen nur widerstrebend für dieses Porträt gesessen. Ein Blick der Verlorenheit lag in den jungen Augen, eine Schwermut, die von stiller Zurückgezogenheit sprach. Ich stellte mir vor, wie sie gewesen sein mußte. Eine scheue, traurige, verwirrte junge Frau. »Vielleicht 1893«, sagte Großmutter. »Ist sie nicht eine Schönheit?«
Ich nickte. Die Mutter meines Großvaters. Meine Urgroßmutter.
»Sie war eine geborene Adams. Sie wohnte in der Marina Avenue. Aber ursprünglich kam ihre Familie aus Wales. Aus Prestatyn, glaube ich.«
»Und Großvaters Vater? Wie sah der aus - ihr Mann? Hast du von ihm auch ein Bild?«
Sie antwortete nicht.
»Großmutter?« Ich sah auf. Ihr Gesicht schien mir hart. Ich wiederholte : »Hast du von meinem Urgroßvater auch ein Bild?« Großmutter beugte sich zu mir herunter und nahm mir das Foto aus den Händen. Mit einem Kopf schütteln ging sie zum Büffet zurück und legte das Bild wieder in die Schublade. Als sie zu ihrem Sessel zurückkam und ein wenig näher an den Kamin rückte, gab sie dem Gespräch eine andere Wendung. »Die Jubiläumsfeiern für die Königin in diesem Jahr waren wirklich wunderschön...«
2
Es war noch nicht halb elf an diesem ersten Abend, aber ich konnte kaum noch die Augen offenhalten. Ich spürte eine leichte Berührung an der Schulter und sah, daß Großmutter aufgestanden war. Und mit schlechtem Gewissen
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