Haus der Erinnerungen
aufgenommen, und für dich wäre es sicher auch komfortabler gewesen, wir haben wenigstens Zentralheizung, aber deine Groß-
mutter wollte nichts davon wissen. Kaum hatte Ruth angerufen und uns gesagt, daß du kommst, da hat Mutter schon das vordere Gästezimmer gerichtet. Es ist ein hübsches Zimmer, du wirst dich bestimmt wohl fühlen.«
Ich richtete mich auf und starrte offenen Mundes das Haus an, ein einstöckiger Kasten aus schmutzigem Klinker mit einem ungepflegten Vorgarten, über dem ein dunkles Erkerfenster hing. Das ganze Haus war finster, wie ausgestorben.
Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und Elsie gebeten, mich mit zu sich und ihrer Zentralheizung zu nehmen. Aber Edouard stapfte schon mit meinem Koffer in der Hand den Gartenweg hinauf und schob den Schlüssel in das Schloß der Haustür. Elsie stieß mich sachte vorwärts. »Komm, Kind. Eine warme Tasse Tee, und dann ins Bett. Das hast du jetzt dringend nötig. Und morgen fühlst du dich wie neugeboren.«
Ich setzte mich in Bewegung, steif vom langen Sitzen in Flugzeug und Auto, erschöpft von Anspannung und Ungewißheit; mein Kopf schmerzte, und ich war hungrig. So betrat ich das Haus meiner Großmutter in der George Street.
Die Ähnlichkeit meiner Großmutter mit meiner Mutter war unglaublich. Als ich ihr in das alte Gesicht sah, war es beinahe, als blickte ich in die Zukunft und sähe meine Mutter, wie sie in sechsundzwanzig Jahren aussehen würde. Wie meine Mutter hatte sie die hochrückige Nase der Dobsons - eine ›aristokratische‹ Nase, sagten manche -, und sie hatte die gleichen ungewöhnlichen grauen Augen, deren Iris schwarz umrandet waren. Ihre Augenbrauen waren schmal und schön geschwungen. Die Wangen unter den hohen Wangenknochen waren eingefallen, das Kinn trat ein wenig spitz hervor. Unter der schlaffen, von tausend Fältchen durchzogenen Haut waren die Linien und Konturen ihres Gesichts auch jetzt noch erkennbar, und je nachdem, wie das Licht auf ihnen spielte, gewannen die Züge etwas von der früheren Schönheit wieder.
Sie faszinierte mich augenblicklich, und lange konnte ich den Blick nicht von ihr wenden. Ihre grauen Augen wurden feucht, und sie sagte mit brüchiger Stimme: »Andrea...«
Auf ihren Stock gestützt, umschlang sie mich mit einem Arm. »Gott sei Dank, daß du gekommen bist«, murmelte sie dicht an meiner Wange, und ich dachte, so werde ich in sechsundfünfzig Jahren aussehen. Mich fröstelte plötzlich, und mir war, als hätte ich einen Schritt in die Zukunft getan.
Aber das Ironische ist, daß ich, wie ich heute weiß, in eben dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoß, in die umgekehrte Richtung ging. Nicht in die Zukunft schaute ich, sondern in eine Zeit, die lang vergangen war.
Das Haus meiner Großmutter war klein und eng. Als diese Reihenhäuser gebaut worden waren, waren die Möglichkeiten, sich vor der Kälte des englischen Winters zu schützen, begrenzt. Wärme spendeten nur die offenen Kamine in den einzelnen Zimmern, daher waren die Räume klein, und alle Durchgangsräume, wie Flur oder Treppenhaus, beklemmend eng und niedrig. Mich überraschte das. Ich hatte mir die alten viktorianischen Häuser Englands immer großzügig und elegant vorgestellt. Aber solche Häuser hatten sich nur die Reichen leisten können. Die breite Mittelklasse, die sich mit der Industrialisierung herausgebildet hatte, hatte sich mit diesen kleinen, weit praktischeren Häuschen begnügt, und das Townsend Haus in der George Street war nur eines von Hunderttausenden seiner Art, die damals überall in England gebaut worden waren.
»Gefällt dir mein kleines Häuschen?« fragte meine Großmutter, nachdem Elsie und Ed gegangen waren und wir es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. Sie hatte einen Teller auf ihrem Schoß und war dabei, eine Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen.
Ich sah mich im Zimmer um. Alte, klobige Möbel, schmutzige Wände, von denen die Farbe abblätterte, verblichene Fotografien auf einem Büffet, in schwarzes Leder gebundene Bücher mit Goldschrift auf dem Rücken, schwere Samtvorhänge. Ein kleines, überladenes viktorianisches Wohnzimmer. Vor langem schon schien für meine Großmutter die Zeit einfach stehengeblieben zu sein.
»Es hat sicher eine lange und interessante Geschichte«, sagte ich.
»O ja, das kann man sagen. Dein Onkel William will mich dauernd überreden, hier auszuziehen und eine Sozialwohnung zu nehmen. Aber ich möchte nicht auf Staatskosten
Weitere Kostenlose Bücher