Haus der Erinnerungen
auf ihr Brot und summte dabei das Lied der Dudelsackpfeifer mit.
Plötzlich fiel mir noch etwas auf. Die Uhr über dem Kaminsims tickte nicht mehr. Ich sah zu ihr hinauf. Sie schien stehengeblieben zu sein.
Das Zimmer war vom Wimmern der Dudelsäcke erfüllt, durch das wie traumhaft die Melodie von ›Für Elise‹ hindurchklang. »Großmutter«, sagte ich lauter. »Deine Uhr ist stehengeblieben.«
Sie sah auf. »Was?«
»Die Uhr. Sie tickt nicht mehr. Hör doch.«
Wir starrten beide auf die Uhr über dem Kamin. Sie tickte wieder.
Meine Zähne schlugen jetzt wieder heftiger aufeinander, und so sehr ich mich bemühte, etwas zu sagen, ich konnte nicht. Doch plötzlich, im nächsten Moment schon, so unerwartet, wie es begonnen hatte, hörte das Zittern und Zähneklappern auf. Mein ganzer Körper war wieder ruhig.
»Nein, nein«, sagte Großmutter. »Die Uhr ist nicht stehengeblieben. Du hast nur das Ticken bei der Musik nicht gehört.«
»Und wegen des Klavierspiels wahrscheinlich.« Ich zog die Decke fester um mich.
»Wegen des Klavierspiels?«
Ich sah meine Großmutter an. Es war so alt, dieses Gesicht, und doch war die frühere Schönheit immer noch deutlich erkennbar. »Ja, es spielt jemand«, sagte ich laut. »Horch!«
Wir horchten beide. Dann schaltete Großmutter das Radio aus. Nichts als das feine Ticken der Uhr war zu hören. »Da spielt niemand Klavier.«
»Aber ich hab's doch gehört.«
»Woher kam das Geräusch?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau.«
»Vielleicht war es Mrs. Clarks Fernseher. Sie sitzt praktisch Wand an Wand mit uns.
Abends kann ich sie manchmal hören.«
»Nein, das war kein Fernseher. Es klang, als spielte jemand im nächsten Zimmer. Hat Mrs. Clark ein Klavier?«
»Keine Ahnung. Aber sie ist genauso alt und arthritisch wie ich.«
»Wer wohnt in dem Haus auf der anderen Seite, Großmutter?«
»Das steht leer. Seit Monaten schon. Heutzutage will kein Mensch kaufen. Jeder schaut nur, daß er eine Sozialwohnung kriegt, die nichts kostet. Ich sag dir, das Sozialsystem in England ist eine Schande. Da lassen sie diese ganzen Pakistanis rein -«
»Ich war überzeugt, ich hätte etwas gehört...«, sagte ich ratlos.
»Du bist einfach müde, Kind.« Großmutter beugte sich zu mir herüber und tätschelte mir beschwichtigend das Knie. »Dir fehlt nur der Schlaf. Ich bin froh, daß du gekommen bist, Andrea. Dein Großvater wird sich freuen.«
»Was fehlt ihm eigentlich?«
»Er ist alt, Andrea. Er hat ein erfülltes und manchmal schweres Leben hinter sich.
Aber es waren gute Jahre. Wir haben viel gemeinsam durchgestanden, dein Großvater und ich.« Als sie mich ansah, waren ihre Augen feucht, und ihre Lippen bebten. »Ich habe mit diesem Mann ein gutes Leben gehabt, und dafür werde ich immer dankbar sein. Es gibt nicht viele Frauen, denen es so gut ergangen ist wie mir. Nein, weiß Gott nicht. Und dabei hatte er im Krieg soviel durchgemacht...« Sie schüttelte bekümmert den Kopf.
»Er war auch im Krieg?« Das war ein Teil der Familiengeschichte, mit dem ich vertraut war. Mein Vater hatte oft vom Krieg erzählt, als er bei der Luftwaffe gewesen war und in der Luftschlacht um England mitgekämpft hatte.
Sie sah mich eine Weile schweigend, mit umflorten Augen an, dann blitzte Erheiterung in diesen Augen auf. »Ja, aber nicht im Zweiten Weltkrieg, Kind. Ich habe vom Ersten Weltkrieg gesprochen. Er war beim Pioniercorps, dein Großvater. Er hat in Mesopotamien gedient.«
Ich machte große Augen. Davon hatte ich nie etwas gehört. »Das wußtest du nicht, hm? Ich seh's deinem Gesicht an. Hat deine Mutter dir nie von uns erzählt? Nein? Hm...« Sie sah auf ihre Hände nieder. »Irgendwie kann ich's verstehen. Die Townsends hatten eine schreckliche Geschichte, bevor dein Großvater und ich heirateten.«
»Schrecklich? Wieso?«
Sie fuhr fort, als hätte sie meine Frage nicht gehört. »Deine Mutter hat dir wahrscheinlich nur aus ihrer eigenen Kindheit erzählt.
Von sich und Elsie und William. Ja, das kann ich gut verstehen. Aber du mußt auch etwas von deinen Großeltern wissen, nicht wahr, Kind? Schließlich bist du auch ein Teil von uns. Ach, dein Großvater und ich hatten oft ein aufregendes Leben, glaub mir. Stell dir vor, genau an dem Tag, an dem wir 1915 heirateten, wurde er nach Übersee geschickt. Danach habe ich ihn zwei Jahre lang nicht mehr gesehen, und als er endlich nach Hause kam, war er so verändert, daß er praktisch ein Fremder für mich war. Er
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