Haus der Jugend (German Edition)
schon in der Hand gehalten hatte, als sie in die Küche kam. Vermutlich hatte ich es einfach übersehen.
Ich würgte sie gehorsam hinunter. Schon als Kind hatte ich mich vor Milch geekelt.
»Wennst de Stiagn aufi gehst, is gleich rechts a kloane Kamma. Doat kannst di lang machn. «
Zum Dank nickend stellte ich das leere Glas ab und stapfte auf Strümpfen nach oben. Die Kammer war spärlich mit einem Bett ausgestattet. Es gab keinen Tisch und keinen Stuhl. Nur ein Brett über dem Kopfende, auf dem eine Bibel lag und ein Kruzifix an der Wand. Ich zog mich aus, legte mich hin und verschwand auf der Landstraße zwischen Gras, Schinken, Brot, die mir Mut machten, und Heuschrecken, vor denen ich zusammenzuckte.
›Du kannst uns nicht in Milch ertränken. Wir können schwimmen‹
, raunten sie. Sie wurden langsamer und die Stimmen leiser, schleppender.
Es war hell, als ich aufwachte.
›Schlafmütze‹, begrüßten mich die Heuschrecken, ›so erreichst du nie etwas.‹
Sie saßen nicht im Zimmer. Als trauten sie sich nicht, es zu betreten, blieben sie vor dem geöffneten Fenster, saßen auf dem Mauersims, standen wie Libellen in der Luft und bildeten eine Wand, durch die kein Sonnenstrahl hätte dringen dürfen.
Ich schämte mich, mochte die Bettdecke nicht aufschlagen, solange die Tiere mir zusahen, mochte nicht entblößt vor ihnen stehen. Jedes Tier fünf Augen. Eine Wand aus Augen, die mich beobachtete. Für jeden Millimeter meiner Haut, für jeden Pickel, jeden Leberfleck, jedes Muttermal, für jede Pore gab es in der Wand ein Auge, das darauf schauen konnte, für jeden Makel genug Beine, die ihn klangvoll höhnisch in die Flügel streichen konnten.
Ich schloss die Augen, um Mut zu sammeln, mich den Grillen entgegen zu stellen. Scham überwinden und Fehler präsentieren. Mit einem Ruck riss ich das Federbett von meinem Körper, sprang auf und drehte mich frontal zum Fenster, ging auf die Heuschrecken zu. »Fort ihr Plagen!«
Die Grillen verzogen sich zu meinem Erstaunen geräuschlos. Vielleicht sahen einige wenige hinter der Mauer versteckt zu, als ich meine Kleidung anzog, den Rucksack nahm und die Stiege nach untern ging.
In der Küche stand warme, fettige Milch auf dem Tisch. Dazu eine Schale mit Haferflocken. Kaffee dampfte in einer Kanne, es gab Rührei mit Speck, dick geschnittenes Graubrot, das roch, als käme es gerade aus dem Ofen.
Die Bäuerin war nicht zu sehen. Ich stellte den Rucksack in den Eingang neben meine Schuhe und setzte mich. Wie schon am Abend betete ich, bevor ich aß.
Es gab keine Speisekammer, in die ich die Lebensmittel räumen konnte, nachdem ich gegessen hatte. Das benutzte Geschirr spülte ich ab und stellte es auf die Anrichte am Rand der Küche.
Die Bäuerin blieb unsichtbar, auch, als ich, den Rucksack auf dem Rücken, über den Hof ging, nach ihr Ausschau hielt, um mich zu bedanken und zu verabschieden. Da ich sie nicht fand, holte ich einen Zettel und einen Stift aus meinem Gepäck und schrieb ein paar Zeilen.
»Herzlichen Dank für das Quartier, das Essen und die Unterstützung gegen die Heuschrecken. Siegfried Wrobel.«
Mehr nicht. Vielleicht war es etwas knapp formuliert, meiner wirklichen Dankbarkeit hätte ich ohnehin keinen Ausdruck verleihen können. Den Zettel ließ ich auf dem Tisch liegen und machte mich auf den Weg.
Die Tage der Wanderung wiederholten sich. Heuschrecken, die mich verfolgten, Brot und Schinken, die mich von innen schützten, und abends, wenn ich vor Erschöpfung nicht mehr konnte, erschienen eine Bäuerin oder ein Bauer, ein Kaufmann oder dessen Frau, boten mir Quartier für die Nacht und etwas zu essen. Ich war zu Gast im Aloisiushaus.
Es schien sich nicht um die Hütte zu handeln, in der ich die Tage mit Darius verbracht hatte. Das Aloisiushaus musste ein unsichtbares Gemäuer um mein Leben sein, das mich begleitete. Warum? Hatte ich vor lauter Untauglichkeit Schutz nötig? Hatte ein Gott beschlossen, mich in ein Leben einzuladen, das ich nicht kannte? Kannte ich überhaupt mein eigenes Leben? Oder sollte ich wie ein Versuchskaninchen von Anfeindung und Unterstützung verfolgt werden, bis ich einen Weg für mein Leben gefunden hätte?
Ich war auf der Suche. Meine Ziele hatten sich in meiner Veranlagung aufgelöst. Ohne Lügen kein Praktikum, ohne Praktikum kein Studium. Talent und Begabung spielten keine Rolle. Aber weshalb die Gastfreundschaft des Aloisiushauses, wenn ich mit meiner Wahrheit doch gegen göttliche Moral
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