Haus der Jugend (German Edition)
gerutscht, als ich ihn abtrocknen wollte. Ich fing ihn gerade noch auf, stellte ihn, wie jeden Morgen, mit dem anderen Geschirr auf der Anrichte ab und setzte den Rucksack auf den Rücken. Schnell noch den üblichen Dank aufschreiben, den Zettel liegen lassen, den Stift darauflegen, stutzen …
Sie war kaum zu sehen, die Antwort, als hätte jemand die Neige des Tintenfasses zu Wörtern zusammengekratzt.
»Der Kampf um dich.«
Wer kämpfte um mich? Die Heuschrecken und das Haus? Was wollten sie von mir. Ich war ein Nichts.
›Endlich siehst du es ein.‹
Erste Zeile, ich war der Kämpfer. Aber kämpfte ich? Um mich? Welchen Kampf? Ich suchte doch nur Antworten.
»Ein Kampf, den ich offensichtlich nicht verstehe«, schrieb ich hastig auf das Papier. Den Stift warf ich frustriert auf den Tisch. Ich wusste doch, wer ich war, hatte bisher keiner Rätsel bedurft, selbst, wenn ich nicht zur Norm gehörte. Warum musste alles aus den Fugen geraten? Warum tapste ich plötzlich durch ein Leben, das nicht mehr mir zu gehören schien? Der Kampf um mich. Wie war ich da hineingeraten?
»Mist!«, brüllte ich so laut ich konnte, noch bevor ich die Heuschrecken wahrnahm.
Die Wanderung wurde mit jedem Tag beschwerlicher. Die Füße taten weh, der Rucksack drückte heftiger auf den Schultern, die Vorräte schützten mich immer weniger vor der Kakofonie der Heuschrecken. Ich schloss die Augen, hielt mir die Ohren zu und ging blind, als höben Heerscharen von Zwergen, kaum größer als die Heuschrecken, meine Füße an, schleppten sie ein paar Zentimeter vor und setzten sie wieder ab. Wenn ich das Konzert der Grillen abschaltete, meinte ich, die Zwerge unter meiner Last ächzen zu hören. Last, die ich nicht sah, nicht benennen konnte, nur fühlte.
Nach der Stärkung am Mittag, Schinken und Brot wurden in meinem Rucksack nie weniger, versuchte ich, die Augen offen zu halten, mir Kraft aus dem Bildnis der Landschaft zu holen, Atem aus der Natur. Die Sicht war nicht gut am vierten Tag meiner Wanderung, der Himmel war grau und die Temperaturen stiegen nie über die Frostgrenze. Zum Glück schneite es nicht. Die Heuschrecken aber hörten auf zu keifen, zu schimpfen, zu singen. Sie blieben, verstummten nicht vollends. In der Kälte des letzten Januartags veränderten sie nur die Strategie. Dabei kannte ich noch nicht einmal das Ziel. Sie zirpten nicht mehr durcheinander, sondern balzten, als wollten sie mich für etwas gewinnen.
›
Wir wollen dich nicht ärgern.‹
Eine von ihnen war offensichtlich zum Sprecher ernannt, flog auf meinen Kopf und wich dem Versuch aus, sie mit der Hand aus meinem Haar zu schlagen.
»Dann verzieht euch.«
›Du kannst Wahrheiten nicht ändern, indem du sie verscheuchst.‹
Wahrheiten? Welche Wahrheiten? Von den Heuschrecken habe ich Beschimpfungen gehört, Schmählieder. Mal haben sie mich als Lügner bezeichnet, mal mir meine Ehrlichkeit vorgeworfen. Immer war ich das verdorbene Subjekt in einer intakten Welt. Immer selbst verantwortlich für das Unrecht, das Fritz mir zugefügt hat. Wahrheiten?
Stumm lief ich weiter, zu faul oder zu erschöpft, auf die leise Wiederholung der Orchestertöne der vergangenen Tage zu antworten. Ich hatte keine Kraft mehr. Ich wollte endlich in München ankommen.
›Wie lange weißt du schon vom Reiz der Männer?‹
»Schon immer«, antwortete ich trotzig. Mühsam folgte ich meinen Schritten. Nur sie waren zu hören, wenn die Heuschrecke auf meinem Kopf die Flügel stillhielt. Während ich lief, hielt die Natur den Atem an.
»Es gehört zu mir, so selbstverständlich, wie ich die Füße voreinander setze, um vorwärtszukommen, die Augen öffne, um zu sehen und still bin, um zu hören.«
›Es ist nicht normal. Ist dir das nie aufgefallen?‹
Schritte durch die Stille, zehn, zwanzig, fünfzig vielleicht.
»Für mich ist es normal. Es ist meine Empfindung. Ich habe sie mir nicht ausgesucht.«
›Also bist du verdorben. Das ist die Wahrheit. Wenn es für dich normal ist, bist du verdorben.‹
»Und wenn schon. Was kann ich dafür?«
›Du kannst dich ändern. Du musst nicht verdorben bleiben, wenn du erkennst, dass du es bist.‹
»Dann würde ich lügen. Ich wäre nicht mehr ich. Ich kann doch nicht einfach meine Gefühle, meine Sehnsucht ändern.«
›Jeder kann sich ändern, wenn er nur will.‹
Ich sah über das Feld am Straßenrand, sah den Weg entlang. Keine Heuschrecken. Sie hatten sich nicht verzogen, sie hatten sich verändert, zirpten nicht
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