Haus der Jugend (German Edition)
mehr, sondern wisperten, lispelten aus breiten Mündern mit gespaltenen Zungen.
Schlangen. Ich trat durch ein Meer von Schlangen, das den Straßenbelag bedeckte, die gefrorenen Felder, aber ich erschrak nicht. Ich nahm es hin, wie ich die Grillen und den Wolpertinger hingenommen hatte, das Haus, das mich abends und morgens mit Nahrung versorgte, Schinken und Brot in meinem Rucksack, die jedes Mal, wenn ich sie herausholte, die gleiche Größe hatten. Ich nahm sie hin, wie ich die Beschimpfungen hingenommen hatte. Als wären sie immer schon da gewesen. Als wären sie normal.
»Was ist so schlimm daran, wie ich bin?«, rief ich. »Ich schade doch niemandem, ich liebe, richte meine Sehnsucht aus. Was ist daran verdorben?«
›Rationalisierungen‹, zischte die Schlange auf meinem Kopf, ›rhetorische Fragen, um dich vor der Wahrheit zu verstecken.‹
Wahrheit, immer wieder Wahrheit. Viel zu oft bemühtes Wort für Meinungen. Was wollten diese Heuschlangenschrecken von mir? Dass ich mich versteckte, verleugnete? Dass ich mich veränderte? Zur Schlange?
Schritte - Schlangen, die weder auswichen noch bissen, wenn ich darauf trat. Der Weg uneben und lebendig, unsicher. Die Füße fanden keinen Halt und doch kam ich voran. Schritt für Schritt.
»Welche Wahrheit, wessen Wahrheit von wem bestimmt? Ich will doch nur so leben dürfen, wie ich bin.«
›Kannst du es?‹
»Nein!«
›Warum nicht?‹
»Weil …«
›Pst.‹
Weil es Gesetze gibt, die es verbieten, Gesetze, die ich nicht verstehe. Weil es Menschen gibt, die mich dafür meiden, weil ein dämlicher Erpresser mir mein Studium …
›Such den Fehler in dir!‹
»Aber es ist doch die Wahrheit.«
›Nur die halbe.‹
Die Schlange glitt an meinem Körper hinab. Wie auf Befehl zogen sich alle Tiere zurück. Der Weg wurde fester, keine Haut knirsche mehr unter meinen Füßen wie Schnee. Die Straße war frei. Nur in der Ferne, am Rand der Felder, konnte ich sie sehen. Gleich einer Welle, die nicht an den Strand gespült wurde, sondern daran entlang, begleiteten sie meinen Weg und ließen mich in Ruhe.
Sie waren da, als ich rastete, sie blieben, als ich weiter ging, bis ich am Abend auf einen Pfarrer traf, der mich fragte, wohin ich unterwegs sei, mich in sein Haus einlud, mir zu essen und ein Quartier für die Nacht gab.
»St. Aloisius« stand in gusseisernen Buchstaben über dem Tor der Kirche.
4.
Entscheidung?
Setzt eine Entscheidung nicht Kenntnis der Fakten voraus, wenigstens das Wissen um sich selbst?
Die Zeit schafft es nicht, mir die Angst zu nehmen. Jeden Tag, den Darius länger bleibt, fürchte ich mehr, er wird mich verlassen.
Er möchte seinen Job nicht aufgeben, obwohl ich es ihm angeboten habe. Solange er bei mir ist, muss er nicht arbeiten. Doch er fährt jeden Morgen mit der Bahn zu den Landungsbrücken, badet im Frittierdunst einer kleinen Küche, in den immer gleichen Aromen der immer gleichen Gerichte, die er vorbereiten und zubereiten muss, lässt sich herumkommandieren und atmet Sonne oder Regen, wenn er abends wieder in die Freiheit geht.
»Du musst das nicht tun.«
»Ich will es tun. Es ist das Leben, das ich mir vor ewigen Jahren mal ausgesucht habe.«
»Ich fahre dich gern.«
»Ich weiß.«
»Warum willst du dann mit der Bahn fahren?«
»Die Menschen am Morgen, die Zeitung lesen, sich manchmal unterhalten, aber immer Reste der Seelen da lassen. Wie Faserspuren, die einen Mörder verraten.«
Er zwingt mir Geld in die Hand, für die Lebensmittel, die ich einkaufe.
»Ich habe genug Geld.«
»Du hast erlebt, wie gut ich versorgt werde.«
»Ich habe es erlebt?«
Darius nickt. »Es ist schön, bei dir zu sein, es ist schön, wenn du für uns kochst, wenn du meine Kleidung wäschst, während ich arbeite und wenn du mir bei Dingen hilfst, die ich nicht kann.«
»Aber du musst mich nicht dafür bezahlen.« Ich schwieg und steckte die Scheine ins Portemonnaie.
Jeden Morgen, wenn er geht, sehe ich ihn in der Küche eines Restaurants verschwinden und nie wieder auftauchen. Jeden Morgen weiß ich, er wird leben. Jeden Morgen lässt er seine Fasern hier. Sie schweben in den T-Shirts, die ich von seinem Bett sammle, und kleben am Rand der Kaffeetasse, aus der er getrunken hat. Sie erfüllen das Haus, seit er da ist, haben es verändert. Es ist, als wäre das Leben, das ich auf meinen Spaziergängen, auf meinen Fahrten in die Stadt gesucht habe, in meine Mauern gezogen und hätte mich mit Aufgaben versorgt.
Leben ist
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