Haus der Lügen - 8
war schlimmer, als das mitanzusehen, was Gwylym widerfahren ist«, fuhr der Kaiser fort und schüttelte den Kopf. »All diese Opfer – auf beiden Seiten. All diese Männer.«
»Und Bryahn«, setzte Merlin leise hinzu. Cayleb schloss die Augen und nickte.
»Und Bryahn«, wiederholte er im Flüsterton.
Da tat Merlin etwas, das er noch nie zuvor getan hatte. Er trat auf Cayleb zu und schloss den Kaiser von Charis fest in die Arme. So hielt er ihn, und Cayleb lehnte die Wange, wenigstens für einen kurzen Moment, gegen die Schulter seines Waffenträgers.
Merlin spürte, dass seine Augen ebenfalls brannten. Seine Software mühte sich nach Kräften, die entsprechende Reaktion seines Originals aus Fleisch und Blut nachzuahmen.
Die Schlacht im Golf von Tarot würde ebenso in die Geschichte eingehen wie die Schlachten im Darcos-Sund oder in der Klippenstraße. So viel wusste Merlin schon jetzt. Doch was weder er noch Cayleb bislang erfahren hatten, selbst nicht mit dem Zugriff auf Owls Fernsonden, war, wie entsetzlich der Preis letztendlich ausfallen würde.
Lock Islands fünfundzwanzig Galeonen hatte es furchtbar erwischt. Elf von ihnen waren kaum mehr als Wracks. Drei dieser elf hatten sämtliche Masten verloren. Ein zwölftes Schiff, HMS Stonehill , war bis zur Wasserlinie abgebrannt und dann explodiert. Merlin wusste nicht genau, wie das geschehen war. Er vermutete aber, einer der gegnerischen Enterer hätte das Schiff gezielt in Brand gesteckt. Merlin hoffte, damit falsch zu liegen – und das nicht nur, weil dieses Selbstopfer Bände über den Fanatismus der Tempelgetreuen spräche.
Acht von Domynyk Staynairs Galeonen waren fast oder ganz unbeschädigt davongekommen. Doch insgesamt hatte es auf den anderen siebzehn charisianischen Schiffen über dreitausend Tote oder Verwundete gegeben – davon allein vierhundert nur auf der Stonehill , als sie explodiert war. Das war fast ein Drittel ihrer gesamten Mannstärke. Die Hälfte der dreitausend Mann waren im Kampf gefallen, und von den Verwundeten würden noch viele ihren Verletzungen erliegen.
In dem letzten, unbändigen Gefecht an Bord von NGS Kreuzzug gehörte auch High Admiral Bryahn Lock Island zu den Gefallenen.
Charis’ Verluste waren hoch. Kornylys Harpahr aber hatte viel schlimmere Verluste hinnehmen müssen. Von den vierundsiebzig Schiffen der Flotte Gottes waren nur neun dem Gemetzel entronnen. Fünfunddreißig der unbewaffneten Galeonen der Kaiserlichen Marine von Harchong hatte man kapern können, dazu sechs ihrer bereits bestückten Galeonen ... von denen fünf letztendlich angesichts von Schonern kapituliert hatten – drei davon sogar, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Der Rest von Harpahrs Flotte hatte sein Heil in der Flucht gesucht, was nur gelang, weil es nicht mehr genug charisianische Schiffe mit intakter Takelage gegeben hatte. Wohin die Flucht ging, nach Desnairia, dem eigentlichen Ziel, oder nur heim, interessierte kaum noch.
Die Prisen waren eine beachtliche – und sehr willkommene – Ergänzung der Imperial Charisian Navy. Zugleich bedeutete der Verlust dieser Schiffe auch einen herben Rückschlag für die Pläne der ›Vierer-Gruppe‹. Merlin hatte keine Ahnung, wie Clyntahn und Konsorten auf das Desaster wohl reagierten. Dass Zhaspahr Clyntahn angesichts dieser neuerlichen Niederlage von seinem Fanatismus abrücken würde, damit rechnete Merlin nicht. Trotz der gewaltigen Verluste verfügte die Kirche immer noch über Mittel und Wege, neue Schiffe zu bauen. Die Frage war nur, ob ihre Anführer immer noch den Willen dazu aufbrächten.
Eigentlich , dachte er, ist das nicht die richtige Frage. Die richtige Frage ist wohl eher, ob sie noch eine andere Möglichkeit sehen, als neue Schiffe zu bauen und es noch einmal zu versuchen.
»›Charis’ Festung sind die hölzernen Schiffsrümpfe seiner Flotte‹«, zitierte Cayleb leise. Er richtete sich auf, löste sich aus Merlins Umarmung und legte nun seinerseits dem Seijin die Hände auf die Schultern. »Damit hatte der alte König Zhan zweifellos recht. Aber er hat nie all das Blut erwähnt, das die Wanten durchtränken würde.«
»Nein, das hat er nicht«, sagte Merlin. »Aber in Wahrheit ist das gar nicht Charis’ Festung. Seine Festung sind die Männer. Männer wie Bryahn und Domynyk. Wie Captain Baikyr und Dunkyn Yairley. Männer wie Hektor.« Er schüttelte den Kopf. »Cayleb, sie wussten ganz genau, auf was sie sich einließen ... und sie haben es trotzdem getan.
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