Haus der Lügen - 8
verzweifelt auf. Duchairn sah die gequälten Neffen und Nichten, sah ihre Blicke, wusste, dass sie sich unfassbar verraten fühlten. Nicht aus Selbstsucht. Aber genau das würden sie glauben, und es zerrisse ihnen ihre Seelen! Ich habe das Recht, mich selbst zu zerstören, ja. Aber habe ich das Recht, meine Familie zusammen mit mir in den Untergang zu reißen?
Selbst wenn er dieses Recht tatsächlich hätte – sein eigenes Opfer, das Opfer seiner Familie, würde doch nicht das Geringste bewirken. In der Folge verstummte nur die einzige Stimme der Vernunft in der ›Vierer-Gruppe‹. Niemand mehr würde sich Clyntahn noch entgegenstellen.
Es ist doch auch egal. Es sollte egal sein! Ich weiß vielleicht nicht immer, was richtig ist. Aber ich weiß, dass das hier falsch ist, und ich bin ein Vikar . Ich bin ein Priester . Ich bin ein Hirte . Langhorne selbst sagt: ›Der gute Hirte opfert sein Leben für das seiner Schafe.‹ Deutlicher kann man es doch nicht ausdrücken. Und doch ... und doch ...
Duchairn schloss die Augen und dachte erneut an das Schreiben zurück, dass Hauwerd Wylsynn ihm zugesteckt hatte. Was es von ihm verlangt hatte, die Hoffnung, die es ihm bot, und das Versprechen, das es ihm abverlangte. Wenn er sich hier und jetzt opferte, so wie es sein Priesteramt von ihm verlangte, würde diese Hoffnung zusammen mit ihm sterben, und das Versprechen bliebe uneingelöst.
Er erinnerte sich an die Leidenschaft in Hauwerds Augen an jenem Morgen, an Samyl Wylsynns sanftmütiges Lächeln und die Freude, die er stets daran gehabt hatte, Gottes Willen zu tun. Duchairn erinnerte sich daran, wie sehr er seine eigene Familie liebte. Er dachte an die heulenden Hunde, die sich zu Clyntahns Füßen versammelten, und presste die Stirn gegen das Zepter, das er immer noch in der Hand hielt.
April,
im Jahr Gottes 894
.I.
Königlicher Palast, Stadt Talkyra, Königreich Delferahk
»Ist es wirklich so schlimm, wie die Berichte vermuten lassen, Phylyp?«, fragte Irys Daykyn ernst.
Gemeinsam mit Graf Coris stand sie an einem ihrer Lieblingsplätze und betrachtete den Erdan-See. Sie liebte den Blick auf den See von diesem Fenster aus. Es befand sich in einem Türmchen, das an die Außenmauer geklebt war wie ein Schwalbennest. Der Anblick des wahrhaft gewaltigen Sees war von hier aus schlichtweg atemberaubend. Das galt besonders für den frühen Abend, wenn die Sonne unterging und das Ufer der anderen Seite in prachtvolles Rotgold tauchte. Bequem zu erreichen war dieser Lieblingsplatz obendrein. Denn der Turm grenzte unmittelbar an den Wohnraum der kleinen Zimmerflucht, die man Irys im Bergfried von König Zhames’ Burg zugewiesen hatte. Gern wählte die Prinzessin diesen Ort für Besprechungen, da man sie hier unmöglich belauschen konnte – ansonsten eine Seltenheit auf der Burg.
Im Augenblick hielt ein kahler Mann von etwa vierzig Jahren vor der Tür Wache, um sicherzustellen, dass die Prinzessin und ihr Vormund nicht gestört würden. Der Mann trug einen dichten Schnäuzer; auf einem Planeten namens Terra hätte man von einem ›Walrossbart‹ gesprochen. Die Nase des Wächters war schief; zweifellos war sie schon mehrmals gebrochen. Der Mann hieß Tobys Raimair, Sergeant Tobys Raimair, seit kurzem im Ruhestand – sozusagen. Zuvor hatte er in der Royal Corisandian Army gedient. Ursprünglich hatte Raimair nicht zu Daivyns und Irys’ Gefolge gehört. Doch Captain Zhoel Harys, der es geschafft hatte, Irys und ihren Bruder unbeschadet aus Corisande zu schaffen, hatte Coris angeraten, Raimair in Dienst zu nehmen. Raimair sei, so hatte der Captain erklärt, nicht nur dem Hause Daykyn treu ergeben und zudem äußerst stur, sondern er sei auch äußerst geschickt mit den Händen. Daher mochte er Seiner Hoheit während dieses ... Besuches in Delferahk möglicherweise gute Dienste leisten.
In den vergangenen Monaten waren Coris wie Irys zu dem Schluss gekommen, Captain Harys mache keinen leeren Versprechungen, wenn er jemanden empfahl. Gänzlich unauffällig hatte Raimair eine persönliche Leibgarde für den neun Jahre alten Prinzen aufgestellt. Nur ein Einziger der Männer stammte aus Delferahk. Sie alle wurden unmittelbar von Irys entlohnt. Dabei griff sie auf einen der ›Notgroschen‹ zurück: Geldsummen, die Coris seinerzeit an verschiedenen Orten auf dem Festland hinterlegt hatte, um sie frei für das Spionagenetzwerk von Irys’ mittlerweile verstorbenem Vater nutzen zu können. Da Irys sie bezahlte, galt die
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