Haus des Glücks
der Doktor schon lange überfällige Arbeiten erledigt; sie hatten die Praxis aufgeräumt, Verbände gewaschen, die Instrumente gereinigt und den Arzneischrank aufgefüllt. Jetzt am Abend war es still. Die Patienten im Krankenzimmer nebenan schliefen. Vor dem geöffneten Fenster saß ein Vogel in einem Busch und sang aus voller Kehle. Der laue Abendwind trug den schweren süßen Duft der Blumen herein.
Wie im Frieden,
dachte Victoria.
Sie waren gerade dabei, den Arm eines Kindes zu verbinden, das sich beim Spielen an einem gesplitterten Holzbalken verletzt hatte. Der Junge saß auf dem Schoß seiner Mutter und sah sie mit großen, ängstlichen Augen an. Victoria hatte Mitleid mit dem Kleinen. Ihr tat auch die Mutter leid, eine bleiche, ausgezehrt wirkende Holländerin, die gemeinsam mit ihrem Mann die einzige Tischlerwerkstatt der Insel betrieb. Sie schien kaum weniger Angst zu haben als ihr Sohn.
»Seien Sie unbesorgt«, tröstete Victoria die Frau. »Die Wunde ist nicht gefährlich. Aber Sie müssen sie sauber halten, damit er keine Infektion bekommt.« Sie strich dem Kleinen über das blonde Haar. »Du warst sehr tapfer. Möchtest du eine Zuckerstange haben? Herr Petersen hat seine Vorräte für mutige Patienten gestiftet!«
Der Kleine nickte. Victoria brach ein Stück von einer Zuckerstange ab und gab es ihm. Ein zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Dass Kinder diesen Wahnsinn miterleben müssen, ist eine Schande!«, sagte die Mutter leise und stand auf. »Mitunter frage ich mich, ob wir diese Insel verlassen sollten.«
»Ich fürchte«, entgegnete der Doktor, »das könnte sich als Fehler erweisen. In anderen Teilen der Welt sieht es auch nicht besser aus. Der Mensch ist überall das gleiche herrschsüchtige, habgierige, eifersüchtige Wesen. Kommen Sie morgen wieder. Dann sehen wir noch einmal nach ihm und wechseln den Verband.«
»Danke, Herr Doktor. Danke, Frau Seymour.«
Victoria sah der Frau nach, die mit ihrem Kind auf dem Arm die Praxis verließ.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte der Doktor.
Victoria seufzte und wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie wollte noch ein paar Dinge wegräumen und den Boden wischen.
»Ich weiß nicht, ob ich diese Frau beneiden oder bedauern soll«, sagte sie. In den letzten Wochen war es für sie zur Gewohnheit geworden, dem Doktor ihr Herz auszuschütten. Er war zwar ein sturer, ungehobelter Kerl, aber auch ein guter Zuhörer. »Ich beneide sie, weil sie ihren Jungen bei sich haben kann. Und ich bedauere sie, weil die beiden hier in Apia nicht sicher sind.«
»Stehen das Wohl und die Sicherheit des Kindes für eine Mutter nicht immer an erster Stelle?«
»Gewiss. Aber es gibt doch nicht nur das körperliche Wohlergehen. Was ist mit der Seele? Ein Kind trösten, wenn es weint, wenn es Schmerzen hat, wenn es sich allein fühlt. Einfach da sein, die kleine Hand halten, es in den Arm nehmen. Sollte eine Mutter das nicht alles tun, anstatt …«
»Halt, Victoria«, unterbrach sie der Doktor. »Sie sind eine wunderbare Mutter. Und nebenbei leisten Sie einen großen Beitrag zum Wohlergehen der Menschen hier. Ich bin sicher, dass Ihre Kinder und Ihr Mann stolz auf Sie sind. Und jetzt sollten Sie sich rasch auf den Heimweg machen, bevor es ganz dunkel ist.«
»Aber ich muss noch aufräumen.«
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Sie?«
Wie denn?
Doch sie schluckte die beiden letzten Worte hinunter.
»Ich werde mich einfach vorantasten«, scherzte er. »Gehen Sie nur, bevor ich es mir anders überlege oder der Nächste zur Tür hereinkommt.«
Victoria band ihre Schürze ab. Heute war so wenig zu tun gewesen, dass sie immer noch sauber war. Sie würde sie morgen ein zweites Mal benutzen können.
Sie hatte die Schürze noch nicht zusammengelegt, als lautes Gepolter sie aufschrecken ließ. Männer stolperten herein. Männer mit schwarzen Haaren, bloßem Oberkörper und dunkler Haut.
»Hab ich es nicht gesagt? Sie hätten sich beeilen müssen.«
Der Doktor verstummte und wurde bleich, und sie fragte sich, warum. Bis sie Karl erkannte. Und die anderen beiden, die eine Trage zwischen sich trugen.
»Karl!«, rief sie aus. »Was um alles in der Welt …«
»Frau Victoria, schnell!«, rief Karl. Das Haar fiel ihm in wirren Strähnen ins Gesicht, seine Lippe war geschwollen, über seiner Augenbraue war die Haut aufgeplatzt. Und sie erkannte, dass nicht nur Blut über seine Wangen hinunterrann.
»Du bist verletzt!«, sagte sie. »Wir müssen die Wunde nähen. Setz
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