Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
Vom Netzwerk:
sehen, bevor … bevor …« Seine Stimme war so leise, dass er kaum zu verstehen war, vor seinem Mund bildeten sich blutige Blasen, sein Gesicht verzerrte sich.
    »Ich werde dir Opium gegen die Schmerzen geben.«
    »Nein!« Seine Reaktion war überraschend heftig. Er richtete sich auf. Woher er die Kraft dafür nahm, war ihr rätselhaft. Er schrie, sank zurück, hustete und spuckte schaumiges Blut auf ihre Schürze. »Ich … will dich … bis zum Schluss sehen … können! Du sagtest …«
    »John, bitte!« Sie sah den Doktor flehend an. »Bitte holen Sie die Opiumtinktur.«
    »Nein, ich …« John schüttelte heftig den Kopf.
    »John, ich bin hier die Krankenschwester.«
    Sie sah zu, wie der Arzt die Tropfen, ohne sie abzuzählen, in ein Wasserglas laufen ließ. Er konnte es nicht sehen. Aber eine genaue Dosierung war ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Wenigstens in diesem Fall. Sie hob Johns Kopf an und nahm dem Doktor das Glas aus der Hand. Sie konnte das Opium riechen, so reichlich hatte er die Tropfen abgemessen. Ihr fiel das Gespräch mit ihrem Vater ein, dass sie vor Jahren und in einem anderen Leben in dessen Praxis geführt hatte:
»Meine Aufgabe ist es, mit all meinem Wissen und meiner Kraft jenen, die sich mir anvertrauen, zu helfen. Das bedeutet, Krankheiten zu heilen und dort, wo dies nicht möglich ist, Leiden zu lindern. Alles andere liegt allein in Gottes Hand.«
Ihr Vater war ein weiser Mann.
    »Trink«, sagte sie und hielt John das Glas an die Lippen. Er trank, schluckte, hustete. »Es dauert eine Weile, bis die Wirkung einsetzt und die Schmerzen nachlassen.«
    »Und dann?« Er drückte ihre Hand mit kalten Fingern. »Werde … ich … dich …«
    Sie konnte nicht antworten und nickte.
    »Ich … habe … Angst …«
    »Ich auch.«
    Allmählich wurde er ruhiger, das Opium begann zu wirken.
    »Die Kinder … sag ihnen, dass ich sie liebe.«
    »Sie lieben dich auch.« Sie streichelte sein bleiches Gesicht, küsste seine Hand. »Ich liebe dich.«
    »Meine … Frau … Doktor«, sagte er und versuchte, ihre Hand zu drücken, doch seine Kräfte ließen nach, schnell und erbarmungslos. »Ich … liebe …« Die Stimme versagte ihm. Wieder musste er husten. Er schrie vor Schmerzen auf, spuckte Blut. Diesmal noch mehr als beim ersten Mal, es war ein ganzer Schwall. Victoria hielt ihn, legte ihn sanft auf den Untersuchungstisch zurück, streichelte ihn. Seine Augen waren fest auf sie gerichtet, größer und dunkler kamen sie ihr vor in seinem bleichen Gesicht. Ein seltsamer grauer Schatten trat auf seine eingefallenen Wangen. Victoria hatte schon viele Menschen sterben sehen. Sie wusste, wann es so weit war.
    Johns Mund bewegte sich. Er war nicht mehr in der Lage, zu sprechen, doch sie konnte von seinen Lippen ablesen, was er sagen wollte –
Victoria.
Immer wieder ihr Name. Sein Atem verlangsamte sich, wurde tiefer, seltener. Schließlich hörte er ganz auf. Und immer noch sah er sie an. Bis zu seinem letzten Atemzug, wie er es sich gewünscht hatte.
    Wie lange Victoria da saß und die zunehmend kälter werdende Hand ihres Mannes hielt, hätte sie nicht sagen können. Aber sie konnte sich nicht von seinen Augen losreißen, wollte nicht akzeptieren, dass dies die letzten Momente waren, in denen sie sie sah. Der Doktor ließ ihr die Zeit. Bis sie schließlich in der Lage war zu tun, womit sie nie gerechnet hatte: Sie legte John ihre Hand auf die Augen und schloss ihm sanft die Lider.
    »Victoria, soll ich …?«
    Der Doktor war hinter sie getreten und berührte sie sachte an der Schulter. Jedes weitere Wort war überflüssig. Sie wusste, dass es ihm leidtat. Ändern konnte er trotzdem nichts.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde ihn selbst waschen.« Sie entfernte die Laken, die Verbände, den Küchenvorhang, das Stuhlbein und zog ihm die zerfetzte Kleidung aus. Sie war vorsichtig, behutsam, obwohl sie wusste, dass sie ihm nicht mehr weh tun konnte. Der Arzt reichte ihr eine Schüssel mit warmem Wasser. Sie tauchte den Schwamm hinein und begann, sein Gesicht zu waschen, seine Arme, die Brust, den Bauch. Siebenmal musste sie das Wasser wechseln. Der Doktor gab ihr Unterwäsche, ein Hemd, eine Hose. John war größer und schlanker, die Hosenbeine reichten ihm nicht einmal bis zu dem Knöchel. Das andere Bein fehlte ja. Ein zu groß geratener Einbeiniger. Er hätte gewiss gelacht. Dann war sie fertig. Sie setzte sich neben den Untersuchungstisch, der für John zur Bahre geworden

Weitere Kostenlose Bücher