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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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war. Sie fühlte sich kalt und leer. Auf ihrem Schoß lag das Stuhlbein. Der Vater des kleinen Jungen, den sie und der Doktor verarztet hatten, hatte die Stühle hergestellt.
War das wirklich an diesem Abend gewesen, oder waren inzwischen Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre vergangen? Oder war es gerade eben passiert?
    Die Patienten nebenan schliefen. Vor dem geöffneten Fenster saß der Vogel im Busch und sang unverdrossen sein Lied. Und der laue Abendwind trug den schweren, süßen Duft der Blumen ins Zimmer. Die Palmen rauschten, und an dem dunklen Himmel blinkten die Sterne. Da draußen, nur wenige Schritte von ihr entfernt, ging das Leben offensichtlich weiter, als wäre nichts geschehen.

20
    Herbst 1899
    E s tut mir leid, Frau Seymour, aber ich habe keinen Stoff mehr – weder Baumwolle noch Leinen.«
    Herr Petersen sah sie bedauernd an. Es schien ihm ehrlich leidzutun. Aber Victoria gab sich nicht so schnell geschlagen. Sie sah sich im Geschäft um. Der Laden war nahezu leer. Sie war die einzige Kundin, und in den Regalen lagen nur noch Dinge, die auf Samoa hergestellt wurden – Bastmatten, leichte Schuhe aus Palmengeflecht, Tranlampen, derbes Tongeschirr. Eigentlich gab es keinen Grund, sich zu beklagen. Sie lebten nicht schlecht. Die Insel bot Obst und Fisch in Hülle und Fülle, Schweine und Hühner lieferten Fleisch und Eier. Sie brauchten nicht zu hungern, auch wenn es kaum machbar war, Wurst oder andere haltbare Lebensmittel herzustellen. Bei der herrschenden Hitze und Feuchtigkeit verdarben sogar Räucherwaren innerhalb kürzester Zeit. Was sonst noch für den täglichen Bedarf nötig war, konnten sie selbst herstellen. Aber es gab Annehmlichkeiten und Artikel, die man erst zu schätzen wusste, wenn sie nicht mehr verfügbar waren, wie Zeitungen und Bücher, Seife, Stoffe, Nähgarn. Und dann gab es natürlich noch die wichtigen Dinge, die weder zu ersetzen waren noch selbst hergestellt werden konnten: Werkzeuge, Medikamente, Verbandszeug. Petersen hatte seit über einem halben Jahr keine Lieferung mehr erhalten. Seit Beginn der Blockade. Sein Lager war leer. Er konnte nichts dafür, trotzdem wurde sie wütend. Sie brauchten unbedingt neues Verbandsmaterial in der Praxis. Seit die Dummköpfe draußen auf dem Meer begonnen hatten, Apia zu beschießen, gab es täglich Verletzte zu versorgen. Von den halbertrunkenen Seeleuten, die das Meer ans Ufer spülte, ganz zu schweigen. Das kleine Krankenzimmer mit seinen vier Betten reichte schon lange nicht mehr aus. Deshalb hatten sie ein Zelt im Garten aufgeschlagen, wo die Verwundeten dicht an dicht auf Palmenmatten lagen. Nach Johns Tod war sie in das Schwesternzimmer der Praxis gezogen, um dem Doktor im Lazarett zur Hand zu gehen. Die Kinder hatte sie schweren Herzens unter Lottes Aufsicht in Tanugamanono gelassen. Aber es war besser so. Im Landesinneren waren sie sicherer. Viele Frauen und Kinder hatten mittlerweile bei den Samoanern Zuflucht gesucht, sofern sie nicht von anderen Verpflichtungen in Apia festgehalten wurden oder freiwillig Dienste übernommen hatten, so wie sie. Jeder musste in diesen Zeiten Opfer bringen. Die Einzigen, die sich über die Kampfhandlungen zu freuen schienen, waren die Haie. Karl berichtete, dass sich die Fischer aus seinem Dorf kaum noch auf das Meer hinaustrauten. Sie hatten noch nie so viele und so große Exemplare der gefräßigen Raubfische in der Bucht gesehen wie in den letzten Monaten. Der Krieg hatte sie offenbar auf den Geschmack gebracht, und das machte sie gefährlich.
    »Hören Sie, Herr Petersen, wenn es ginge, würde ich Binden aus Palmenblättern flechten, aber …«
    »Frau Seymour, ich sagte Ihnen doch, ich kann nicht …«
    Da blieb ihr Blick an einem Kleid hängen, das halb versteckt von der Tür im Rücken des Kaufmanns an einem Wandhaken auf einem Bügel hing. Es war ein aufwendig genähtes Brautkleid mit Rüschen und Volants, dazu gehörte ein fast bodenlanger Schleier aus hauchzarter Spitze. Es war der Traum jeder jungen Braut. Paula musste mindestens ein halbes Jahr daran gearbeitet haben. Zweifelsohne würde sie tödlich beleidigt sein. Aber konnte sie jetzt darauf Rücksicht nehmen?
    »Was ist damit?«
    Petersen drehte sich um und folgte mit den Augen ihrem ausgestreckten Finger. Als er sich umdrehte, hatte sein Gesicht eine grünliche Färbung angenommen.
    »Sie meinen …«
    »Das Brautkleid. Richtig. Und den Schleier nehme ich auch mit.«
    »Frau Seymour, mit Verlaub, das Kleid ist überaus

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