Haut, so weiß wie Schnee
Flügel ausstreckte, kam sie auf eine Spannweite von vierzig Zentimetern. Er fand sie schön. Stundenlang hatte er ihr zugeschaut und ihre Gewohnheiten und ihren Charakter studiert. Heute Nacht würde sich zeigen, ob die Fledermaus ausgelernt hatte. Endlich. Die Nacht war perfekt dafür. Kai Saalfeld hatte er nichts davon gesagt. Das hier war seine Privatsache.
»Ich weiß«, flüsterte Wim Tanner dem Tier zu, »es dauert ewig.« Am besten, er stellte den MP3-Player noch mal an. Er kramte das Gerät aus dem Rucksack und drückte auf Play. Das Band spielte die regelmäßigen Atemzüge der schlafenden Jette Lindner ab. Wim Tanner hatte die Geräusche in der vergangenen Nacht aufgenommen. Er hatte sich lautlos zu den schlafenden Mädchen geschlichen, das Aufnahmegerät neben Jette Lindner gestellt und auf Record gedrückt. Dann hatte er der Fledermaus die Atemzüge den ganzen Tag lang vorgespielt. Wenn alles klappte, würde die Fledermaus ihr Opfer an der Atemfrequenz erkennen. Mit einem Kalb hatte es bereits funktioniert. Die Fledermaus war dafür einen halben Kilometer weit zu einem Bauernhof geflogen und hatte das richtige Kalb ausgewählt. Ob sieheute Abend auch so zuverlässig war? Das hier war ihre Meisterprüfung.
Die Zeit dehnte sich. Endlich, um drei Uhr, war das Feuer im Lager der Mädchen erloschen, und es war nichts mehr zu hören. Mit routiniertem Griff rückte Wim Tanner seine Pistole zurecht, die er an einem Gurt unter dem T-Shirt trug. Dann nahm er sein Nachtsichtgerät und den Käfig mit der Fledermaus. Leise schlich er zum Lager der Mädchen. Sie waren mit ihren Isomatten draußen geblieben und schliefen. Gut so. Wim Tanner öffnete den Käfig. Seine Finger bekamen das kleine Schloss kaum auf. Er zitterte vor Aufregung. Dann war es so weit. Das Tier schlüpfte aus dem Käfig und breitete die Flügel aus.
Die Fledermaus flog direkt zu den Mädchen. Wim Tanner griff nach dem Nachtsichtgerät. Das Tier kreiste zweimal über der Lagerstätte, dann landete es neben Jette Lindner. Es hatte sein Ziel erkannt. Das Mädchen lag auf der Seite. Es hatte den Schlafsack weit hochgezogen, aber ein Arm ragte heraus. Die Fledermaus ließ sich neben dem nackten Arm nieder. Dann begann sie, die Armbeuge abzulecken. In ihrem Speichel war ein natürliches Betäubungsmittel. Das Mädchen würde den Biss nicht spüren.
Wim Tanner zoomte mit seinem Nachtsichtgerät näher heran und sah, wie das Tier eine kleine Falte in der Armbeuge zwischen die Schneidezähne nahm und ein Stück Haut herausbiss. Aus der Wunde floss ein kleines Rinnsal Blut. Die Fledermaus leckte es auf. Sie hatte begonnen zu trinken. Alles lief nach Plan. Wim Tanner atmete tief durch. Seine Geduld, seine Mühe und seine Fähigkeiten wurden belohnt. Wahrscheinlich war er der Einzige auf der Welt, der Fledermäuse besaß, die auf Kommando Blut abzapfen konnten. Das war endlich einmal was. »Mach das, was du am besten kannst«, hieß es ja immer.
Lange hatte er nicht gewusst, was er am besten konnte. Im Gärtnern war er gut. Okay. Aber das war nicht unbedingt was Besonderes. Ansonsten: Er hatte nicht studiert. Kein Abitur. Nicht einmal einen Realschulabschluss. Nur mit Tieren, also gewissen Tieren, konnte er schon immer gut umgehen. Und jetzt, endlich, würde er diese besondere Begabung zu Geld machen. Und zwar zu viel Geld, so viel war sicher. Bisher hatte er allerdings nur Ideen gehabt, die krimineller Art waren. Man konnte zum Beispiel eine Fledermaus mit Tollwut infizieren und so den perfekten Mord begehen. Oder einen ganzen Schwarm Vampirfledermäuse auf einen Schlafenden ansetzen. Mit dem gleichen Ergebnis. Er hatte allerdings noch nie einen Menschen umgebracht, und er war auch nicht scharf darauf. Solche Dinge bargen Risiken. Damit kannte er sich aus. Denn schließlich war er derjenige, der die nicht ganz sauberen Angelegenheiten für Kai Saalfeld erledigte. Vielleicht würden ihm ja noch ein paar legale, ebenfalls lukrative Verwendungen für seine Vampirfledermäuse einfallen. Eines jedoch war klar: Er würde nicht auf Dauer den Lakai für Kai Saalfeld machen.
Wim Tanner schaute auf die Uhr. Die Fledermaus trank bereits seit zwanzig Minuten. Das war normal, sie brauchte so lange. Jette Lindner merkte immer noch nichts. Ein Eichhörnchen näherte sich dem Lager und beobachtete die Fledermaus. Endlich spreizte das Tier seine Flügel und erhob sich in den Nachthimmel. Das Eichhörnchen sprang erschrocken zurück. »Perfekt«, flüsterte Wim Tanner.
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