Haut, so weiß wie Schnee
nickte.
Dukie stand auf, drückte am Telefon eine Taste und bat Carmen, ihnen das Abendessen hochzubringen. Jonah setzte sich langsam in Bewegung. Er rutschte zur Bettkante, erhob sich und ging vorsichtig zu dem kleinen Esstisch am Fenster. Dort setzte er sich hin und wartete.
Jonah war blind. Seit etwas über einem Jahr. Es war ein Unfall gewesen. Ein vorbeifahrender Laster hatte Jonah auf seinem Fahrrad gestreift. Er war mit voller Wucht durch die Luft geflogen und hatte sich schwer verletzt. Die Ärzte hatten ihn nach allen Regeln der Kunst wieder zusammengeflickt, nur die Augen hatten sie nicht mehr hinbekommen. Jetzt trug er eine Sonnenbrille. Er hatte auch Narben im Gesicht. Auf jeder Seite eine. Sie waren lang und schmal und führten von den Schläfen gerade nach unten. Dukie hatte ihm gesagt, sie sähen aus, als rahmten sie sein Gesicht mit den blonden Haaren ein. Sie seien okay, er sei nicht entstellt. Auf Dukie war in dieser Hinsicht Verlass. Seine Eltern hatte er lieber nicht gefragt. Seit dem Unfall verbrachte er so viel Zeit wie möglich bei Dukie im Dachgeschoss. Mit seinem alten Kumpel war es einigermaßen entspannt. Er nervte ihn nicht damit, dass er die Brailleschrift oder andere Sachen dieser Art lernen sollte. Wie seine Eltern es taten oder, genauer gesagt, seine Mutter.
Es klopfte. Dukie schaltete den Empfänger aus und rief: »Herein!« Es war Carmen mit dem Essen. »Dein Vater hat klasse Garnelen bekommen«, sagte sie zu Jonah. Sie trug ihm auf und erklärte, wie sie es für ihn als Blinden gelernt hatte, wo was lag: »Die Garnele ist gepult und liegt auf zwölf Uhr. Der Barsch ist auf drei, die Soße auf sechs und der Vanilleduft …« – Jonah hörte, wie sie schnupperte – »… liegt in der Luft.« Sie lachte. »Guten Appetit!« Und weg war sie.
Jonah tastete mit der Gabel nach der Garnele. Als er sie gefunden hatte, spießte er sie auf und schob sie in den Mund. Sie war fest und saftig und schmeckte nach Meer. Jonah ließ seine Gabel über den Teller gleiten und hoffte, etwas Vanillesoße zu ergattern. Keine Frage, sein Vater konnte kochen. Er nahm noch einen Bissen und schloss die Augen, um sich ganz auf den Geschmack zu konzentrieren. KomischeAngewohnheit, die Augen zu schließen, dachte er; wo er doch schon blind war.
»Es geht weiter«, sagte Dukie mit vollem Mund. »Ich stell laut.«
»Was soll ich als Nächstes machen?« Die niedergeschlagene Stimme Wim Tanners war wieder zu hören.
»Was du schon die ganze Zeit machen solltest«, herrschte Dr. Saalfeld ihn an. »Herausfinden, wie wir am besten an eine saubere Genprobe von ihr kommen. Haare, Haut, was auch immer. Aber bitte ihre Haare, ihre Haut. Also hundertprozentige Sicherheit. Keine Haare von irgendeiner Bürste, sondern direkt von ihr. Such nach einer günstigen Gelegenheit. Möchte mal wissen, warum du nicht gleich am See ein paar Haare von ihr mitgebracht hast.«
»Ging nicht.«
»Du warst doch ganz nah an ihr dran, als sie schlief. Du hast ja sogar das Aufnahmegerät vor sie gestellt, hast du gesagt.«
»Ich hatte Angst, dass sie wach wird, wenn ich an ihren Haaren rummache.«
»Wahrscheinlich waren dir die Fledermäuse wichtiger«, sagte Dr. Saalfeld. »Außerdem brauche ich eine Blutprobe von ihr. Für einige Untersuchungen ist Blut besser. Mach mir einen Vorschlag, wie wir das hinkriegen. Aber eine saubere Probe. Nichts mit bluttrinkenden Fledermäusen und so. Ist das klar? Das ist kein sauberes Material. Keine Pannen mehr mit Schneewittchen.«
»Ich unterbreche nur ungern Ihre Märchenstunde …« Carmens amüsierte Stimme.
»Die hat den letzten Satz mitgekriegt«, raunte Dukie.
»Freuen Sie sich jetzt auf Entenbrust mit Apfel-Trauben-Kraut und Röstkartoffeln.«
Eine Weile war aus dem Speisesaal nur noch das leise Geklapper von Besteck zu hören.
»Weißt du, warum dein Vater eine Genprobe von dem Mädchen will?«, fragte Jonah.
»Nein«, antwortete Dukie knapp.
An der Tür klopfte es. Carmen kam herein, und Jonah hörte es kurz darauf knirschen. Er musste grinsen. Carmen war wieder einmal auf eines der Muschelfelder getreten, die Dukie in seinem Zimmer ausgelegt hatte.
»’tschuldigung«, murmelte Carmen. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass der Boden nicht nur zum Laufen da war.
Seitdem Dukie vor drei Jahren ins Dachgeschoss gezogen war, hatte er es nach und nach in eine »Seen- und Ozeanlandschaft« verwandelt, wie er es nannte. An der Decke hingen Fischernetze, von denen unförmig
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